Direkt zum Seiteninhalt springen

Im Sommer 2022 ist der Krieg in der Ukraine allgegenwärtig und gleichzeitig fast verschwunden. Die russische Invasion begann im Februar mit einem Vorstoß auf Kyjiw, der erfolglos blieb. Große Teile des Landes kehrten zu einer Art Normalität zurück, während im weit entfernten Südosten ein erbitterter Kampf um Mariupol geführt wurde. Diese Normalität unter den Bedingungen des Krieges ist einer der wesentlichen Aspekte in dem Dokumentarfilm W UKRAINIE (In Ukraine) von Piotr Pawlus und Tomasz Wolski. Sie fahren durch ein Land, das viele Spuren von Zerstörung aufweist, während sich allmählich wieder ein Alltag einstellt. Das erste Bild zeigt eine zerstörte Brücke, für die es bereits eine asphaltierte Umfahrung gibt. Auf den Trümmern finden internationale Fernsehreporter ein gutes Hintergrundmotiv, um von der aktuellen Situation zu berichten. Die Straßen sind von Wracks gesäumt, viele der zerstörten Panzer gehörten einmal zu der russischen Armee. Nun lassen sich ukrainische Frauen von ihren Männern auf den schweren Waffen fotografieren, die ihre Bedrohlichkeit eingebüßt haben. Jedenfalls für den Moment.

Fast ein Jahr dauert der Krieg nun schon an, die meisten Menschen in der Ukraine zählen ohnehin anders: Für sie hat der Krieg 2014 begonnen, mit der Annexion der Krim und mit den „Freischärlern“, die in der Region um Donetsk und Lugansk ein Terrorregime errichtet haben. Russland unter Vladimir Putin hat an seiner Peripherie eine Reihe von Territorien geschaffen, deren Status prekär ist: Transnistrien, Abchasien, Teile von Georgien, Teile des ukrainischen Donbas. Für den Krieg in der Ukraine könnte das eines der Szenarien sein: dass er nie ein richtiges Ende findet, sondern zu einer Unlösbarkeit führt, mit der sich die Menschen auf irgendeine Weise arrangieren müssen. Pawlus und Wolski protokollieren Vorgänge in einer Situation, in der Krieg und Nachkrieg nicht klar voneinander zu trennen sind.

Sie heben diese Trennung schließlich dramaturgisch auf: Ihr Film bewegt sich auf den Krieg zu, sie nähern sich allmählich der Front. Zwei Filmemacher aus Polen, dem unmittelbaren westlichen Nachbarland der Ukraine, das sich von der russischen Aggression implizit mitgemeint und selbst bedroht fühlt, fahren nach Osten. In vielen Bildern gibt es eine Spannung zwischen Vordergrund und Hintergrund, die sich auf die Kriegslage in der Ukraine projizieren lässt: Im Vordergrund sind Szenen eines (wieder oder vorübergehend) scheinbar unbeeinträchtigten Lebens zu sehen, Kinderspielplätze oder Sportplätze zum Beispiel, während im Hintergrund die Wohnhäuser von Einschlägen gezeichnet sind. Das Ausmaß der Zerstörungen, das Pawlus und Wolski beiläufig verzeichnen, ist enorm und weckt aufs Neue ein Bewusstsein dafür, was für ein Desaster der Krieg in der Zentralukraine am oberen Dnipro-Fluss und in Städten wie Charkiw oder Tschernihiw mit sich gebracht hat.

Nur wer Worte wie „Ukrzalianytsia“ (die ukrainische Eisenbahngesellschaft) oder „Paljanyzja“ (ein traditionells Brot) gut über die Lippen bekommt, kann den Verdacht loswerden, eigentlich auf Seite Russlands zu stehen.

Checkpoints sind in Indiz für die Unklarheit der aktuellen Lage. Pawlus und Wolski stoßen mehrfach auf solche Kontrollen, an manchen Stellen sind es Kinder, die über Passieren oder Umkehren entscheiden. Die Lenker der Autos müssen sich durch Vokabeln als Ukrainisch ausweisen: Nur wer Worte wie „Ukrzalianytsia“ (die ukrainische Eisenbahngesellschaft) oder „Paljanyzja“ (ein traditionelles Brot) gut über die Lippen bekommt, kann den Verdacht loswerden, eigentlich auf Seite Russlands zu stehen. Die Kinder „spielen“ immer wieder Krieg, selbst unter Bedingungen eines nahen tatsächlichen Krieges. Ein Rohr dient als Granatwerfer.

In Kyjiw werden Lebensmittel verteilt, zur Sicherheit schlafen immer noch Menschen in der Untergrundbahn. Die Solidarität in der Gesellschaft erinnert in vielen Szenen an vergleichbare Bilder aus dem Euromaidan, als die Ukraine 2013/14 eine massive Manifestation für eine bessere Regierung und für die Orientierung an den liberalen Demokratien West-Europas auf die Beine brachte. Gegen diese Bemühungen um Demokratie richtet sich Putins Krieg zuallererst.

Je weiter Pawlus und Wolski nach Osten kommen, desto präsenter wird der Krieg. Freiwillige werden im Dienst mit der Waffe unterwiesen. Frauen achten auch in Uniform noch auf eine gute Frisur, sie haben Zeit, denn sie sind nicht direkt an der Front. Die „Orks“, wie die russischen Soldat*innen in Anspielung auf die hässlichen, blutrünstigen Wesen aus J.R.R. Tolkiens Fantasy-Erzählung „Der Herr der Ringe“ genannt werden, sind nun schon ganz nahe.

Filme über den Krieg müssen sich in der Regel in irgendeiner Form „embedden“, „einbinden“. Mantas Kvedaravicius, der im März 2022 im umkämpften Mariupol drehte, fand Anschluss an eine Notgemeinschaft in einer Kirche inmitten schon zerstörter Gebäude. Der französische Philosoph Bernard Henry-Lévy ließ sich in dieser Zeit mit Kämpfern filmen, blieb aber zur tatsächlichen Front und zu den Gefechten in Mariupol (von denen er Bilder zeigt) auf Distanz. Pawlus und Wolski suggerieren mit W UKRAINIE eine Bewegung, die sie nach ihrem eigenen Ermessen und auf eigene Faust bestimmten. Man kann diese Bewegung auch metonymisch für das europäische Engagement nehmen: Wer sich ein Bild von den Verhältnissen im Land macht, wer nicht bei bloßen Foto-Ops bleibt, wird der Ukraine Unterstützung schwer versagen können. Im Sommer 2022, als dieser Film gedreht wurde, war die Lage für eine Weile wie in der Schwebe, obwohl auch in dieser Phase immer wieder Menschen starben und die Zerstörungen weitergingen. W UKRAINIE von Piotr Pawlus und Tomasz Wolski wird in einer künftigen Geschichte dieses Krieges als ein Dokument dienen, aus dem auch hervorgeht, wo eine unentschlossene europäische Politik hinführen könnte – in eine trügerische Alltäglichkeit.

Bert Rebhandl lebt als freier Journalist, Autor und Übersetzer in Berlin.

ZURÜCK ZUM FILM

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur