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Selbst wenn die Berlin-Trilogie des Regisseurs Thomas Arslan eher zufällig entstanden ist und zu keinem Zeitpunkt ein Masterplan für die Entwicklung einer zusammenhängenden Erzählung vorlag, so lässt sie sich durchaus als dreiteiliger Bildungsroman lesen. Die Geschichte beginnt mit Jugendlichen: Sie sind GESCHWISTER – KARDESLER (so der Titel des Films aus dem Jahre 1997) und sie leben in Kreuzberg. Im zweiten Teil DEALER (1999) sind die Protagonist*innen aus den Kinderschuhen raus, aber noch nicht so richtig erwachsen. Sie pendeln zwischen Halb- und Unterwelt.

Rastlose Bewegung, Herkunft adé

Die Hauptfigur in DER SCHÖNE TAG (2001), dem dritten Teil, ist Schauspielerin und Synchronsprecherin; sie schwebt souverän durch städtische Räume, Beziehungen und Jobs. Ihre Herkunft spielt keine Rolle – ihre Identität ist post-ethnisch. Das ist insbesondere bei den Figuren des ersten Teils noch anders: sie sind noch weitgehend festgelegt auf eine Nachbarschaft (die migrantische Hochburg Westberlins) und in gewisser Hinsicht auch auf ihre Herkunft – der ältere der beiden Brüder zieht am Ende zurück in die Türkei, um dort den Militärdienst zu absolvieren.

In allen drei Teilen sind die Protagonist*innen stets in Bewegung, sie sind ständig auf den Straßen Berlins unterwegs – auf dieser Ebene und in diesem Modus verhandelt der dreiteilige Bildungsroman das komplexe Verhältnis von Ich und Welt. Nicht Symbole Berlins, so genannte Wahrzeichen, sondern Atmosphären, Lichtfrequenzen und Farben konstituieren die Welt als begreifbaren, wiedererkennbaren Raum.

Man darf Abschied nehmen von einem Berlin, das sich in Postkartenmotiven und City-Marketing-Klischees erschöpft. Und man wird eingeladen gemeinsam mit den Figuren eine Stadt zu betreten, die erst noch zu entdecken, kartografieren und mit Geschichten aufzuladen ist. Auch heute noch sind die Filme in dieser Hinsicht so frisch wie am ersten Tag.

Die Filmbilder sind sehr konzentriert, aber nie angespannt. Die Kamera fokussiert niemals etwas, das sie nicht unbedingt sehen und zeigen will. Durch die Augen der Protagonist*innen sehen wir eine Stadt befreit vom Smog des Alltags. Wollte man von einer residualen „Essenz“ sprechen, also dem, was unter dem Strich übrigbleibt, wenn Arslan alles Unwesentliche weglässt, so liegt sie in der Schönheit des Dokumentarischen. Das unverstellte Bild, die Dinge, schlicht und ergreifend so wie sie sind.

Smog, Rauschen und Jeans

Analog dazu leben die Filme von einem Klang, der so crisp, so dynamisch, so vielstimmig ist, wie ihn nur eine Großstadt hervorbringen kann. Der Soundtrack der Filme, der die Stadt als Klangkörper amplifiziert – er filtert den Smog des Alltags, um ein Rauschen herauszuarbeiten. Das ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn es ist dieses Rauschen, das Klarheit bringt in das Verhältnis von Ich und Welt. Jene Klarheit, nach der man sich im Alltag so häufig sehnt, jenes Rauschen, das man häufig versucht auszublenden, weil es als Störgeräusch empfunden wird.

Und so kommt die poetische Potenz der Berlin-Trilogie nicht von ungefähr in einem trivial scheinenden Sound-Detail zur Geltung. Das Schlappen der Jeans ist, wie auch schon Veronika Rall beobachtet hat, ein sonisches Leitmotiv, das alle drei Teile des Bildungsromans verbindet. Die Protagonist*innen sind so gut wie immer auf Achse, fast immer auf der Straße und bringen dieses Geräusch mit ihren ausgestellten Jeans-Hosen hervor, das aufgeht im urbanen Noise, der wiederum aufgeht im weltumspannenden Äther.

Der Lärm, den alle Menschen hervorbringen, der das „Gemeinsam-Sein” (Jean-Luc Nancy) zu Gehör bringt – es ist dieser Lärm, der mit dem Jeans-Geräusch auf eine gleichermaßen banale wie signifikante Sound-Signatur heruntergebrochen wird. Selten war das Verhältnis von Ich und Welt so klar wie hier. Selten wurde es so unverstellt, so unverhohlen präsentiert. Die vermeintliche Essenz: ein subtiler Noise. Wir sind ganz Ohr.

Krystian Woznicki arbeitet als Kritiker, Fotograf und ist Mit-Herausgeber der „Berliner Gazette“, wo dieser Text 2015 erstmals veröffentlicht wurde.

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