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Das Herumsitzen im Kino ist eine sehr unfilmische Angelegenheit: Zwischen den anderen zu lümmeln, in der ersten, zweiten oder letzten Reihe, in der Mittelachse oder am Rand – es gibt da sehr gegensätzliche Dogmen –, bietet wenig Erzählenswertes.

Mögen sie sich also noch so liebevoll am, heute würde man sagen „Nerdtum“ abarbeiten: Filme über Cinephile stehen vor diesem grundsätzlichen Problem. In früheren Jahren lösten Regisseur*innen es, indem sie dem meist männlichen Filmliebhaber eine spannende außerfilmische Aktion andichteten. In Werken wie Roy Del Ruths STARLIFT (1951) oder Frank Tashlins HOLLYWOOD OR BUST (1956) geht es weniger um Cinephile in ihrer intellektuellen Ausprägung als um die Bewunderung für einzelne fiktive oder reale Stars: Diese treffen zu wollen, löst eine Kaskade abenteuerlicher Verwicklungen aus. Woody Allen koppelt in PLAY IT AGAIN, SAM (1971) die Handlung – Filmkritiker hat Pech in der Liebe, findet sie und entsagt ihr – mit dem Film im Film. In der Psyche des Helden ist kaum weniger los als auf der Leinwand, und dank Halluzinationen steigt sogar Humphrey Bogart herab und hilft dem vom Leben Überforderten wieder auf die Beine.

Filme über Cinephilie, so scheint es, müssen stets einen Weg hinaus aus dem Kino finden. Vielleicht, weil sie von Wirklichkeitsverhältnissen handeln und schon deshalb über die Tatsächlichkeit des Im-Kino-Sitzens hinausgehen müssen.

Findet man im Kino die Wirklichkeit oder verfehlt man sie?

Davon erzählt auch Bernardo Bertoluccis Spielfilm DIE TRÄUMER von 2003. Der Film nimmt seinen Anfang bei den Pariser Unruhen 1968, zu denen es wegen der Absetzung des Leiters der Cinématèque française gekommen ist. Vor der legendären Wiege der Cinephilie der fünfziger und sechziger Jahre lernt der amerikanische Austauschstudent Matthew (Michael Pitt) die Zwillinge Isabelle und Theo kennen, gespielt von Eva Green und Louis Garrel. Die Verwandlung des Realen ins Cinematografische geschieht schleichend: Als er die beiden erstmals in ihrem großbürgerlichem Elternhaus besucht, rückt die Kamera ganz nah an Isabelles Haar heran, das bei der Begrüßung ihres Vaters dessen Wange streift. Mit Matthews Blick versinkt die Kamera in diesem Bild, als wäre solche Intimität vor den Augen eines Fremden etwas Ungehöriges. Als wäre es: Kino. Georg Seeßlen schreibt, Matthew werde im Folgenden „zu einem Cinephilen in jenem Sinn, wie man das nur in Frankreich sein kann. Dahinter steht dann allerdings die größere Frage, ob das Kino ihm hilft, die Wirklichkeit zu finden oder zu verfehlen“.

Matthew selbst nennt die Leinwand eine „Wand, die vor der Welt schützt“. Der Film handelt vom Poröswerden dieser Barriere. Nicht zufällig umrahmen ihn deshalb Gerüche, diese Manifestationen des unausweichlich Realen. Zu Beginn bescheinigt Isabelle ihrem neuen Freund, er sehe „so schrecklich sauber aus für jemanden, der das Kino sehr liebt“. Damit beschreibt sie eine noch bestehende Differenz, eine ruchbare Nichtzugehörigkeit. Ihren Bruder Theo dagegen kündigt sie an mit dem Hinweis auf dessen angeblich bestialischen Gestank. Nach vielen nachgespielten Filmszenen und sexuellen Ausschweifungen in der zunehmend verwahrlosten elterlichen Wohnung bricht mit der Frage „Was stinkt denn hier so komisch?“ das Reale in den regressiven Kokon des weltabgewandten Trios ein: Es ist das Gas, mit dem Isabelle sich und die beiden anderen töten wollte, als letzte Flucht vor den Zumutungen des Offenkundigen. Doch ein Pflasterstein fliegt durch eine Fensterscheibe und reißt die Drei aus ihrem Dämmer.

Das Weiterleben nach dem Film: diese lästige oder erstaunliche Eigenschaft des Realen!

Verkörpern DIE TRÄUMER noch den schön gefährlichen Jugendtraum cinephilen Liebens und Lebens, in dem ein gealterter Regisseur rückblickend ein schmeichelhaft attraktives Dreier-Selbstporträt von sich malt, zeigen Dokumentarfilme, in welche Extreme kinobegeistertes Leben sonst noch ausschlagen kann. Das Weiterleben nach dem Film: diese lästige oder erstaunliche Eigenschaft des Realen!

Er ziehe das Kino der Wirklichkeit vor, erklärt in Angela Christliebs und Stephen Kijaks Dokumentarfilm CINEMANIA (2002) einer von fünf porträtierten New Yorker Cinephilen. Ein Liebhaber des französischen Autorenkinos schleppt in seiner Baumwolltasche Pillen gegen Rückenschmerzen herum und solche gegen Einschlafprobleme – für die Zeit nach dem Kinobesuch. Opfer müssen gebracht werden: Seine Ernährung beschränkt sich auf Toast mit Erdnussbutter, aber die Dusche vor dem Film sei obligatorisch, sagt er stolz. Offenbar keine Selbstverständlichkeit.

Im Alltag von Cinephilen riecht es. Nicht nur nach Popcorn („Hört auf, Popcorn zu verkaufen!“ klagt einer in CINEMANIA), sondern manchmal auch nach Füßen, billigem Parfum oder Magenproblemen. Man selbst und die anderen besitzen einen Körper: Eine Erfahrung, die in den letzten beiden Jahren ein wenig in Vergessenheit geraten ist. In Ausnahmesituationen wird physische Nähe zur Sensation. Oder zur Zumutung.

Am Ende verlassen die Fünf, eigentlich ein Haufen Einzelgänger, den Kinosaal als Filmfiguren: Ihnen wurde CINEMANIA vorgeführt, sie sahen sich also selbst, doch beim Hinausgehen lassen sie dieselben abhakenden Statements fallen wie nach allen anderen Filmen auch.

Cinephilie als radikale Offenheit

Wie ganz anders nimmt sich ein Cineasten-Paar aus, das Alice Agneskirchners Dokumentarfilm KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA porträtiert: Erika und Ulrich Gregor, Mitbegründer der Freunde der Deutschen Kinemathek (heute Arsenal – Institut für Film und Videokunst) und des Internationalen Forums des Jungen Films, unterscheiden sich radikal von den Maniacs aus CINEMANIA.

Sie hätten etwa 100.000 Filme gesehen und 40.000 gezeigt, heißt es im Film. Teils unter abenteuerlichen Bedingungen holten sie Werke nach Deutschland, die heute zum Kanon deutscher und internationaler Filmkunst gehören und Werkbiografien entscheidend mitprägten. Jim Jarmusch etwa sagt, hätten die Gregors ihm nicht zu Beginn seiner Karriere das Gefühl gegeben, Filmemacher zu sein, hätte er aufgehört. Nicht Weltabgewandtheit, sondern Weltzugewandtheit, nicht der Ausschluss des Anderen, sondern Offenheit baut an der (Kino-)Welt mit, die man dann mit anderen auch bewohnen kann: Das ist zumindest für die klassische Cinephile nicht selbstverständlich, kommuniziere diese in ihrer begeisterten Rede doch „den Ausschluss anders Begeisterter unentwegt mit“, wie der Filmkritiker Ekkehard Knörer schreibt. Bei den Gregors tritt Cinephilie als Kuratierung, Freundschaft und Gespräch aus dem Kinosaal heraus und wieder in ihn hinein. 

KOMM MIT MIR IN DAS CINEMA: Schon im Titel, einem 1937 erschienenen Gedicht von Else Lasker-Schüler entnommen, perforiert der schöpferisch liebende Blick jene „Wand, die vor der Welt schützt“: Im Kino, da liegt „meine Hand in Deiner Hand/ Ganz übermannt im Dunkel,/ Trompetet wo ein Elefant/ Ganz plötzlich aus dem Dschungel – / Und schnappt nach uns aus heißem Sand/ Auf seiner Filmenseide,/ Ein Krokodilweib, hirnverbrannt,/ Dann – küssen wir uns beide!“ Rüssel und Hand, Krokodilsrachen und Lippen: ein lustig wogendes Ineinander, ein Auf und Ab, als sehe man dem Zwerchfell bei der Arbeit zu.

Sie habe immer den Moment gespürt, wenn das Publikum „mit dem Film geatmet“ habe, erklärt Erika Gregor. Ihr Mann will wissen, woran sie das gespürt habe. Sie zuckt mit den Schultern: Sie spüre das eben. Wie soll man etwas erklären, das sich dem Messbaren entzieht? Und doch erzählt diese kleine Differenz viel von dieser Liebe: davon, Unverständliches und Unterschiede stehen lassen zu können. Der Atem des Kinos will nicht im Exklusiven stillgestellt und festgezurrt sein, er ist etwas Diffundierendes, wortwörtlich Begeisterndes.

Am Ende sagt Erika Gregor, sie hoffe heute noch, wenn sie im Kino sitze und der Vorhang aufgehe, „dass es ein wunderbarer Film ist, und ich hoffe, dass ich etwas lerne“. Sie blickt zu Ulrich. „Oder?“ Er deutet zur Leinwand und sagt mit einem Anflug ironischer Theatralik: „Die weiße Leinwand verlangt danach, wieder mit einem Film belichtet zu werden.“ Es ist Paraphrase und Ergänzung in einem. Belichtet werden im gelungenen Kino-Moment ja alle beide, der Mensch und die Leinwand. Denn beide sind beides: Empfänger und Inspiration. Leib und Seele.

Cosima Lutz lebt in Berlin und arbeitet als Filmkritikerin für verschiedene Print- und Online-Medien wie Die Welt und Filmdienst.

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