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Wenn ein Elternteil im Leben eines Kindes fehlt, verändert das die Lebensgrundlage. Menschen, die das in der Kindheit erlebt haben, spüren eine besondere Verbindung zueinander, wenn sie einander kennenlernen. So war es, als ich Erika Gregor vor über 30 Jahren zum ersten Mal traf. Ein langes Gespräch auf einem kleinen, mittlerweile leider nicht mehr existierenden Filmfestival auf der Ostsee-Insel Poel. Unser Gespräch drehte sich um Filme, aber noch mehr um Familie, um das Verschwinden von Vätern in Erikas Fall, das Verschwinden von Müttern in meinem Fall. Erikas Mutter war damals anwesend, Erikas Ehemann Ulrich ebenfalls, und er war – das ist wörtlich zu nehmen – ein aufrichtig Beistehender.

Dass dieses Gespräch, in dessen Verlauf ich mich mit Erika und ihrer Mutter angefreundet habe, einmal der Initialmoment für das Entstehen meines Kino-Dokumentarfilms über die Gregors werden würde, wusste ich damals nicht. Ich war Studentin an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Babelsberg, wollte Dokumentarfilme machen und war neugierig auf die Welt, das Leben, die Filme und vor allem auf Menschen. Das ist auch heute noch so. Entwickelt hat sich meine Kenntnis des filmischen Handwerks und das Bewusstsein, als Dokumentarfilmerin Seismografin und Chronistin unserer Zeit zu sein.

Erika und Ulrich Gregor haben sich mit all ihren Sinnen einer Lebensaufgabe gewidmet: „ungewöhnliche Filme aus aller Welt hier einem Publikum zu zeigen“. Jahrzehntelang, unermüdlich. Dabei haben sie auf die jeweils aktuellen Fragen der Zeit Bezug genommen. Nie war ihre Filmauswahl zufällig, immer war das von ihnen gestaltete Programm – egal ob im Kino Arsenal oder im Forum der Berlinale – mit Bedacht für die gesellschaftliche und politische Situation kuratiert. Sie sind Zeitzeugen, die die Kultur, nicht nur die Filmkultur, in den Jahren zwischen 1957 und 2000 in Deutschland und Europa geprägt haben. 1932 und 1934 geboren, gehören sie einer Altersgruppe an, die den Nationalsozialismus als Kinder miterlebt hat und vor dem Hintergrund dieser Erfahrung, als sogenannte „Nachkriegsgeneration“, ein anderes Deutschland aufbauen wollte. Ein Deutschland, das demokratisch ist, das die Gräuel des Nationalsozialismus nicht leugnet, sondern die Verantwortung dafür übernimmt. Ihren Überzeugungen ein so aufrichtiges Engagement folgen zu lassen, macht die Gregors nicht nur zu besonderen Menschen, sondern auch zu wichtigen Zeitzeug*innen. Als Dokumentaristin empfand ich es als unerlässlich, dass Erika und Ulrich Gregors Lebenswerk filmisch für uns und, zugespitzt formuliert, auch für die Nachwelt festgehalten werden muss, solange die Gelegenheit dazu besteht.

Der mündlichen Erzählung wird nur noch selten zugetraut, einen filmischen Bogen halten zu können

Ohne Filmfinanzierung, unter den Bedingungen der Corona-Pandemie, jedoch mit dem festen Willen, dass wir diesen Film jetzt angehen müssen – so haben der Kameramann Jan Kerhart, die Tonfrau Ivonne Gärber und ich im Juni 2020 die ersten Aufnahmen mit den Gregors gedreht: zwei Tage Interview im (coronabedingt geschlossenen) Kino Arsenal, dort auch das Ansehen eines Überraschungsfilms und einen Besuch daheim, wo uns die Gregors in ihrem Arbeitszimmer ein Gedicht von Else Lasker-Schüler vorgetragen haben: „Komm mit mir in das Cinema.“

Das war der Beginn einer filmischen Reise, manchmal auch ein Parforceritt, der uns durch mehrere hundert von den Gregors ausgewählten Filme, unzählige Stunden Archivmaterial des damaligen SFB und des Fernsehens der DDR, Gespräche mit Weggefährten, allesamt Ikonen des Deutschen Films, u.a. Edgar Reitz, Wim Wenders, Michael Verhoeven, Jutta Brückner und Helke Sander und zu vielen weiteren Gesprächen mit Erika und Ulrich Gregor geführt hat.

Ein Film, dessen Protagonist*innen im Wesentlichen aus ihrem Leben erzählen – da fürchten viele, das könne nur ein langatmiger oder langweiliger Film werden. Vorbei sind die Zeiten, in denen Eberhard Fechner seine großen Interview-Filme als oral history für das Fernsehen gedreht hat. Der mündlichen Erzählung wird nur noch selten zugetraut, einen filmischen Bogen halten zu können. Mein Dank geht an den RBB (Redaktion Rolf Bergmann), den WDR (Redaktion Andrea Hanke), die Jury des BKM, das Medienboard Berlin Brandenburg und den DFFF, sowie an unsere Crowdfunding-Community und meine Ko-Produzentin Sandra Ehlermann. Sie alle haben es ermöglicht, diesen Film so zu gestalten, wie ich ihn für richtig hielt. Die Gregors haben uns ihr Leben erzählt. Wir haben Ausschnitte aus 40 Filmen ausgewählt, die repräsentativ oder assoziativ mit ihrem Leben verbunden sind. Wir haben wahre Schätze im Archivmaterial entdeckt und sämtliche Elemente in einer aufwändigen und assoziativen Montage (Editorin: Silke Botsch) miteinander verwoben.

Besonders wichtig war mir, das Lebensgefühl im Berlin der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre nicht nur zu benennen, sondern es im Film aufleben zu lassen

Wenn es denn beim Dokumentarfilm ein Geheimnis gibt, dann ist es dieses: Ein Gespür zu entwickeln für das Wahrhaftige, und in dem Moment, in dem es sich vor der Kamera offenbart, schnell zu entscheiden, es in Bild und Ton festzuhalten. Eine Herausforderung für das Drehteam, da es permanente Achtsamkeit erfordert. Aber es ist unerlässlich. So sehe ich das. So habe ich es von Klaus Wildenhahn und seinen Direct-Cinema-Dokumentarfilmen gelernt. Für mich ist es dabei unerheblich, ob diese Momente puristisch – also im Direct-Cinema-Stil auch ohne Beisein der Kamera stattfinden würden – oder ob sie für den Drehtag arrangiert wurden. Wichtig ist mir, dass die Momente wahrhaftig sind. So haben wir es gehalten, die Gregors, mein Team und ich. Besonders wichtig war mir, das Lebensgefühl im Berlin der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre nicht nur zu benennen, sondern es im Film aufleben zu lassen. So haben wir auch einige Szenen mit einem jungen Paar inszeniert, das Berlin auf diversen Vespa-Fahrten erkundet, so wie Ulrich Gregor und Erika Steinhoff, die spätere Erika Gregor, es noch vor dem Mauer-Bau in Ost- und West-Berlin getan haben.

Mehr als einmal hatte ich die Befürchtung, dieser Aufgabe nicht gerecht werden zu können. So groß war der Wirkungsbereich der Gregors, so viele Filme und Archivmaterial waren zu sichten, dazu Tausende Fotos, Programmhefte, Plakate, und Zeitungsartikel. Oft hatte ich das Gefühl, im Leben der Gregors und der Fülle des Materials zu versinken, mich darin nicht zurechtzufinden, geschweige denn den einen, „richtigen“ Film darüber machen zu können. So vielschichtig das Leben und Wirken der Gregors ist, so divers sind die Perspektiven auf dieses Leben.

Wie kann es gelingen, ein gelebtes Leben noch zu Lebzeiten der Protagonist*innen in einem biografischen Film wiederzugeben, diesen beiden Ikonen der Filmbranche gerecht zu werden, Kulturgeschichte – und vor allem 100 Jahre Filmgeschichte – vor dem Hintergrund einer privaten Lebensgeschichte zu erzählen? Was davon ist wirklich privat und muss es auch bleiben? Es war eine Gratwanderung. Erika und Ulrich Gregor und wir haben darüber verhandelt. An jedem Drehtag von neuem. Im Verlauf von eineinhalb Jahren Drehzeit ist das Vertrauen gewachsen. Es wurden Dreh-Momente möglich, die jenseits ihres gemeinsamen Wirkens einen Blick in das private Leben dieses Paares erlauben, das seit mehr als 60 Jahren verheiratet ist und noch immer gern zusammenlebt und zusammenarbeitet. „Komm mit mir in das Cinema“ – das sagen uns: „Die Gregors“ – getreu nach dem Motto: „Ein Leben ohne Kino ist möglich, aber sinnlos.“

Alice Agneskirchner

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