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Etwas über Geschichte zu lernen, erfordert manchmal einen kurzen Abstecher in die Bibliothek oder gar zu Wikipedia. Doch das Abtauchen in ein vernachlässigtes, unvollständiges, in die Jahre gekommenes Archiv, das Menschen mit eigenen festgefahrenen und voreingenommenen Meinungen erfasst, katalogisiert und gepflegt haben, kann dazu führen, dass man noch weiter von den bekannten „Fakten“ abrückt. Und je weiter man sich entfernt, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass man sich verirrt. Dies ist das Thema von Jerónimo Rodriguez’ Film EL VETERANO (The Veteran): Die Erzählung kreist um die Chile- und USA-Reisen der Filmemacher Julio und Gabriel, die im Film weder zu sehen noch zu hören sind. Stattdessen berichtet eine dritte Person in einem monotonen Voiceover von ihren Erlebnissen. Gabriel ist vollkommen besessen von einem Gerücht, von dem er zum ersten Mal in der Stadt Curepto gehört hat. Angeblich soll ein Amerikaner namens Thomas J. Maney, der weiter nördlich in Licantén wohnte, der eigentliche Verantwortliche für den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am Ende des Zweiten Weltkriegs sein. Er ging später als Missionar nach Chile und setzte sich anschließend in Ecuador zur Ruhe, wo er 2004 starb.


Hinweise auf einen Konflikt

Diese Annahme ist zunächst einmal verlockend, denn Südamerika diente vielen Verbrechern des Zweiten Weltkriegs bekanntlich als Versteck und in einigen Fällen auch als letzte Ruhestätte: Laut einer internen Untersuchung der deutschen Nachkriegsregierung sollen schätzungsweise 1500 bis 2000 Nazis nach Brasilien und 500 bis 1000 nach Chile geflohen sein (von den mehr als 5000 Nazis in Argentinien ganz zu schweigen). Die Erforschung von Maneys Lebensgeschichte sieht Gabriel als Möglichkeit, die lang etablierte Gewissheit in der Region durcheinanderzubringen, dass sich südlich des Äquators nur Kriegsverbrecher der Achsenmächte (unabhängig davon, ob sie später gefasst wurden) unter einem Decknamen versteckten. Die Tatsache, dass Maney in seiner Heimat (nach zwei Jahrzehnten des „Kriegs gegen den Terror“ hinterlässt die Verwendung des Begriffs Heimat einen bitteren Nachgeschmack) noch immer als Held gilt, wird zum Kompass auf den verschlungenen Pfaden, auf die sich EL VETERANO begibt. Die Dramatik in Rodriguez’ Film nährt sich aus der Erkenntnis, dass Maney „durch das Priestergelübde lediglich eine Form der Eroberung gegen eine andere ausgetauscht hatte“. Auch wenn Maney niemals über seine Kriegserlebnisse sprach, wie sich jemand aus Licantén erinnert, „dachten alle, er habe das Priesteramt angenommen, weil er sich schuldig fühlte“.

 

EL VETERANO besteht aus einem Mosaik von Titeln, Ortsnamen, etablierten „Geschichten“ und deren Grenzen, die die stets unangenehme Beschäftigung mit der Frage, was wirklich passiert ist, einschränken.

 

Gabriel erfährt, dass Maney nach seinen Flügen mit der B-29 über Japan zunächst Wirtschaftswissenschaften an der Iowa State University studierte, bevor er dem Priesterseminar beitrat. Laut der Stimme im Voiceover ist sich Gabriel nicht sicher, „ob es die Gewalt des Krieges war oder die Grausamkeit Wirtschaft zu studieren, die in ihm etwas auslöste“. Auch hier lässt sich die Geschichte unmöglich aufarbeiten, aber auch nicht übergehen: Das Ames Laboratory an der Iowa State ist nur eine von zahlreichen Forschungseinrichtungen, die im Rahmen von Roosevelts Manhattan-Projekt an der Entwicklung der Atombombe beteiligt waren. Betrachtet man Maneys wiederentdeckte Lebensgeschichte wohlwollend, dann könnte er als einer der vielen durchschnittlichen US-Amerikaner durchgehen, die die traumatischen Erinnerungen des Krieges hinter sich lassen wollten. Doch Gabriel deckt immer mehr Hinweise auf, die anderes vermuten lassen. Letzen Endes gehen Gerüchte in jeder Gemeinschaft (und erst recht in einer, die sich zu Geschäften mit Gringo-Missionaren gezwungen sieht) in die inoffizielle Geschichtsschreibung ein. Die zugleich weit verbreitete und nicht nachprüfbare Behauptung, Maney sei „derjenige“ gewesen, der die Bombe abgeworfen habe, legt sich Gabriel wie ein unbewegliches Objekt in den Weg, das er weder umgehen noch überwinden kann. Und allein diese Frage wirft viele weitere Fragen auf: War nicht Präsident Truman „derjenige“, der die Bombe abgeworfen hat? Handelten die amerikanischen Soldaten, die diese Einsätze flogen, nicht „nur auf Befehl“ (ein Argument der Verteidigung, das bei den Nürnberger Prozessen gegen die Nazi-Verbrecher als unbegründet zurückgewiesen wurde)? Die Spannung von EL VETERANO ergibt sich aus der Ungewissheit darüber, ob Gabriel die Geschichte erfolgreich entschlüsseln kann und ob es ihm in seinen zähen Gesprächen mit dem immer skeptischeren und entrückteren Julio gelingt herauszufinden, inwiefern sich diese Geschichte überhaupt für einen Film eignet.

 

Leerstellen in Vergangenheit und Gegenwart

EL VETERANO besteht aus einem Mosaik von Titeln, Ortsnamen, etablierten „Geschichten“ und deren Grenzen, die die stets unangenehme Beschäftigung mit der Frage, was wirklich passiert ist, einschränken. Die größte Last tragen dabei all diejenigen, die über außergewöhnliches historisches Insider-Wissen verfügen. Doch auch kollektiver Gedächtnisschwund ist keine Lösung. In der von den USA dominierten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entpuppte sich die Ökonomie als alternatives Mittel der Kriegsführung. Während des Kalten Krieges war Chile das beste Beispiel für neoliberale Wirtschaftsinterventionen durch die „Chicago Boys“, die unter der Militärdiktatur Augusto Pinochets die chilenische Wirtschaft mit Deregulierungsmaßnahmen grundlegend umgestalteten. Auf diese Diktatur gehen Gabriel und Julio in ihrem historischen Diskurs nicht ein. Doch sie verweisen auf einen anderen, ebenfalls komplexen Konflikt, der einer vergilbten kommunistischen Zeitung zu entnehmen ist, in der ein amerikanischer Missionar als der Pilot „entlarvt“ wird, der den Einsatz zum Abwurf der Atombombe geflogen hat. Dieser Hinweis, auf den Gabriel während seiner Ermittlungen stößt, ist ein weiterer Beleg für eine komplexere politische Vergangenheit, die möglicherweise erst vor kurzem in Vergessenheit geraten ist, doch schon lange zuvor nur noch von Sammlern auf Flohmärkten aufgedeckt werden konnte.

 

Wie schon in Rodriguez‘ vorangegangenem Spielfilm RASTREADOR DE ESTATUAS (2015) erzählt EL VETERANO die Geschichte von Gabriels Reisen ausschließlich in fast statischen Einstellungen. Das Voiceover berichtet von seinen Recherchen mit einnehmender nüchterner Klarheit. Während sich Rodriguez‘ in seinem Vorgängerfilm an Raúl Ruiz und dessen künstlerischer Praxis der Digression orientierte (und dabei umfassend Gebrauch von der Unzuverlässigkeit der menschlichen Erinnerung machte), liefert er mit EL VETERANO eine Tragödie der Unvollkommenheit ab, die mit Ausnahme einiger kurzer Archivaufnahmen, auf die Gabriel zu Beginn seiner Recherchen gestoßen ist, ganz ohne menschliche Gesichter auskommt. Eine nächtliche Tour durch Santiago entspringt ganz offenbar einer Begeisterung für Architektur. Doch politische Graffiti – und die unverhohlenen und deutlich sichtbaren Entfernungsversuche der Behörden – versetzen die Erzählung zurück in die chilenische Vergangenheit und (implizit) auch in die Zukunft. Die Einstellungen sind zwar statisch, doch die Bilder keineswegs. In der Natur wechseln Wind und Sonne einander ab und erinnern daran, dass sich Geschichte und Geografie auch lange nach dem Vergessen von Namen und Gesichtern nicht voneinander trennen lassen.


Steve Macfarlane aus Seattle arbeitet heute als Filmkurator und Schriftsteller in Queens, New York.

 

Übersetzung: Kathrin Hadeler

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