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Es kommt nicht allzu oft vor, dass Texten über experimentelle oder essayistische Filme Spoilerwarnungen vorausgeschickt werden, aber in diesem Fall lässt es sich kaum vermeiden: Im Folgenden wird eine ziemlich zentrale Pointe von James Bennings THE UNITED STATES OF AMERICA vorweggenommen – weil sich anders schlichtweg nicht sinnvoll über den Film schreiben lässt. Alle, die sich im Kino lieber überraschen lassen, sollten diesen Text nach dem ersten Absatz abbrechen. Nur eines sei ihnen, beziehungsweise Ihnen, noch auf den Weg mitgegeben: Es lohnt sich unbedingt, beim Abspann sitzen zu bleiben!

 

Denn ein simpler Textblock im Abspann macht die Spoilerwarnung erst notwendig: Weil er der basalen Text-Bild-Synthese, auf der alles vorher Gezeigte zu basieren scheint, jegliche Grundlage entzieht. Was wir bis zum Moment des Abspanns gesehen zu haben glauben in THE UNITED STATES OF AMERICA ist ein politisch-geografischer Bewegtbildatlas der titelgebenden Nation, bestehend aus 52 Texteinblendungen und ebenso vielen statischen Einstellungen, die fast alle, mal im näheren, mal im weiteren Sinn, als Landschaftsaufnahmen gefasst werden können. „Heron Bay, Alabama“ lautet die erste Texteinblendung, die folgende Einstellung zeigt eine Reihe von windschiefen, in sandiger Erde verankerte Stäbe – vermutlich Überreste eines abgerissenen Gebäudes. Die nächste Schrifttafel: „Copper River, Alaska“, und gleich darauf die Panoramaansicht einer Bergregion.

 

So geht es weiter, ein alphabetischer Durchlauf durch die amerikanischen Bundesstaaten (plus, das stellt eine erste politische Intervention dar, den District of Columbia sowie Puerto Rico, zwei Territorien, die zwar zum Hoheitsgebiet der Vereinigten Staaten zählen, die jedoch nicht den Status eines Bundesstaats haben).  Verbunden werden die Namen der Bundesstaaten und Territorien mit einem spezifischen Ortsnamen und gefolgt von einer meist knapp zweiminütigen Einstellung, von der wir kaum anders können als anzunehmen, dass sie „vor Ort“, also im Fall der ersten in Heron Bay, Alabama, aufgenommen wurde. Kaum deutlicher könnten die beiden zentralen Elemente des Films aufeinander bezogen sein, ein Eindruck, der gelegentlich auch von der Tonspur unterstützt wird, etwa wenn auf die Texteinblendung „Fayette, Mississippi“ die Aufnahme eines Baumwollfeldes folgt, der ein Statement des afroamerikanischen Bürgerrechtsaktivisten Stokely Carmichaels über das Erbe der Sklaverei unterlegt ist. Tatsächlich kann der Bezug semantisch in beide Richtungen aufgelöst werden: Der Text ist ebenso identifizerende „Beschriftung“ des Bildes, wie das Bild Illustration des Textes.

Auseinanderfallen von Text und Bild

Könnte. Wenn da nicht der Abspann wäre. „Gefilmt in Kalifornien“ ist dort zu lesen, gefolgt von einer „teilweisen Auflistung“ der Drehorte. Beide Aspekte des Schrift-Bild-Bezugs, das Verortungs- ebenso wie das Repräsentationsverhältnis, erweisen sich auf einen Schlag als Schimären. Retrospektiv fallen die beiden zentralen visuellen Bestandteile von Bennings United States of America wieder auseinander, und was bleibt, ist das Prinzip der filmischen Montage als einer prinzipiell sinnneutralen Abfolge diskontinuierlicher Bewegtbildblöcke. Die freilich im nächsten Schritt doch wieder unweigerlich mit Sinn aufgeladen wird.

 

Denn selbstverständlich werden die Landschaftsaufnahmen in THE UNITED STATES OF AMERICA nicht zu reinen Zufallsbildern, nur weil sie, dem Abspann zufolge, ausschließlich in Kalifornien entstanden sind. Ganz im Gegenteil wird das Verhältnis der beiden Elemente zueinander komplexer. Dass das geografische Identifikationsprinzip nicht mehr vollumfänglich greift, heißt schließlich nicht, dass sich die Landschaften durch unser erweitertes Wissen komplett von den Ortsnamen lösen würden; eher werden wir mit der Frage konfrontiert, warum wir vorher genau diese Bilder als Repräsentation genau dieser Orte akzeptiert hatten.

 

Außerdem, und das ist vielleicht noch wichtiger, wird der Blick (wiederum, das bleibt rezeptionsästhetisch betrachtet die zentrale Pointe des Films: nur retrospektiv) frei für jene Aspekte der Bilder, die in der Repräsentationsfunktion von Anfang an nicht aufgegangen sind. Zum Beispiel für selbstreflexive Aspekte. Manche von Bennings älteren Filmen wie RR (2007), TEN SKIES (2004) oder auch GLORY (2018) werden durch Bildmotive in THE UNITED STATES OF AMERICA evoziert, andere, wie etwa STEMPLE PASS (2012), durch die Einblendungen der Ortsnamen. Der Abspann wiederum ruft die drei Filme auf, in denen Benning seine seither fast zum Klischee geronnenen Stil des „Landschaftsfilms“ erstmals voll zur Entfaltung brachte – ist THE UNITED STATES OF AMERICA am Ende ein Nachtrag, beziehungsweise eine Fortschreibung der California Trilogy, bestehend aus EL VALLEY CENTRAL (1999), LOS (2000) und SOGOBI (2001)?

THE UNITED STATES OF AMERICA (1975) von James Benning und Bette Gordon

 

Die Rückkehr der Fiktion

Die komplexeste Verbindung unterhält THE UNITED STATES OF AMERICA mit einem Frühwerk, einem 27-minütigen Film gleichen Titels, den Benning 1975 gemeinsam mit Bette Gordon realisiert hat. In diesem ersten Amerikafilm sehen wir einen Mann und eine Frau in einem Auto, meist sitzt er, gelegentlich sie am Steuer. Die Kamera befindet sich auf dem Rücksitz und filmt über die Köpfe der beiden Figuren hinweg durch die Windschutzscheibe die Gegend, durch die sich der Wagen bewegt. Nicht wie im neuen Film harte Schnitte, sondern sanfte Überblendungen lassen die unterschiedlichen Landschaften im Verlauf des road trips, aber auch die unterschiedlichen Dynamiken und Stimmungen im Auto ineinanderfließen.

 

Bereits die jeweiligen Konnotationen des Titels – welche „states“ wie „united“ werden (oder auch nicht), und was das mit „America“ zu tun hat (oder auch nicht), werden offensichtlich von beiden Filmen komplett unterschiedlich gefasst. Gleichzeitig jedoch schließt der neue Film an einen Aspekt des älteren an, der in Bennings Frühwerk fast durchweg zentral war: Fiktionsbildung sowohl als ein Problem als auch als ein Potential des filmischen Bildes. Nicht nur in THE UNITED STATES OF AMERICA, sondern auch zum Beispiel in 11 x 14 (1978), HIM AND ME (1983) oder LANDSCAPE SUICIDE (1986) verbindet sich der Blick auf amerikanische Landschaften mit Fragmenten von Figurenerzählungen, mal eher autobiografisch grundiert, mal quasidokumentarisch. In den Arbeiten der letzten beiden Jahrzehnte jedoch tauchen derartige Techniken kaum noch auf oder sind zumindest noch weiter an die Ränder oder auch ins Unsichtbare der Bilder gedrängt. Deren Sinngehalt erschließt sich insbesondere in den hyperminimalistischen Arbeiten wie TEN SKIES oder 13 LAKES nur noch aus den Bildern selbst, beziehungsweise aus ihrer seriellen Abfolge heraus.

In gewisser Weise kehrt im neuen Film also die Fiktionsbildung in Bennings Kino zurück. Allerdings ist sie in THE UNITED STATES OF AMERICA 2021, anders als in THE UNITED STATES OF AMERICA 1975, nicht mehr an Figuren gebunden. Stattdessen wird sie, vermittels des Abspanns, in den Landschaftsaufnahmen selbst verortet – sozusagen in der Substanz eines Amerikas, das im Werk James Bennings nie ganz mit sich selbst zur Deckung kommt.

 

Lukas Foerster, Filmkritiker und Medienwissenschaftler, lebt in Köln.

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