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Gegen Ende von GEOGRAPHIES OF SOLITUDE, dem zweiten Langfilm der kanadischen Filmemacherin Jacquelyn Mills, füllt sich das Bild mit irreal glitzernden Sternen. Aus dem Off erklingt dazu die Stimme der Naturforscherin Zoe Lucas: „Wir sind ganz genauso Teil dieses Aufs und Ab des Materials, das uns verbindet“, sagt sie – und spricht dabei von einem toten Pferd in den Dünen von Sable Island, einer entlegenen und schmalen 42 Kilometer langen Insel südöstlich des Festlands von Nova Scotia. Lucas lebt und arbeitet seit mehr als 40 Jahren dort, manchmal ist sie der einzige Mensch auf dem gesamten Eiland. Sie beobachtet weiter, wie die verwesenden Körper der Tiere den Käfern und Wirbellosen hilft, die sich in sie hineingraben, genauso den Gräsern und Goldruten, die aufgrund der Nährstoffe gedeihen, die beim Verwesungsprozess entstehen – Pflanzen, die selbst wiederum für den Sauerstoff und den Geruch in der Luft auf der Insel verantwortlich sind. Im Grunde funktioniert diese improvisierte Trauerrede als Statement und These dieses Films, mit dem Mills nicht nur Lucas und ihre Arbeit porträtiert, sondern ebenso all jene nichtmenschlichen Subjekte, die Gegenstand dieser hingebungsvoll ausgeübten Arbeit sind. Und die, wie wir sehen werden, auch den Film selbst bestimmen.

Mills stellt Ziele wie die Kontrolle und Zähmung der Natur zur Seite, um eine dokumentarische Praxis zu verfolgen, die den Menschen aus dem Zentrum nimmt und zugleich unsere Sensibilität gegenüber Tieren, Insekten, Pflanzen und all dem Material, aus dem unsere geteilte Welt besteht, intensiviert

GEOGRAPHIES OF SOLITUDE möchte verstehen, inwiefern organische und anorganische, menschliche und nichtmenschliche Prozesse sich nicht nur gegenseitig beeinflussen und informieren, sondern darüber hinaus auch gemeinsam an einem kreativen Vorgehen beteiligt werden können. Mills stellt dabei Ziele wie die Kontrolle und Zähmung der Natur zur Seite, um eine dokumentarische Praxis zu verfolgen, die den Menschen aus dem Zentrum nimmt, zugleich unsere Sensibilität gegenüber Tieren, Insekten, Pflanzen und all dem Material, aus dem unsere geteilte Welt besteht, intensiviert und unser aller Ko-Existenz in neuem Licht erscheinen lässt.

Das Zuhause und die Welt

Mills zeigt all die Arten auf, in denen Lucas (in gleich mehrfacher Bedeutung) als Hüterin und Verwalterin des Lebens auf der Insel fungiert – mit allem, was dazugehört. Die Naturforscherin teilt sich die Insel mit einer Schar nichtmenschlicher Anderer: mit Käfern, Spinnen, Goldruten, Schafgarben, schnarchenden und singenden Robben, deren Köpfe aus dem Wasser ragen, als wären sie eine Schar Kinder im Stadtbad, prachtvollen wilden Pferden, die auf der Insel seit dem 18. Jahrhundert zuhause sind. Ständig sieht man Lucas, wie sie GPS-Koordinaten notiert, Excel-Tabellen auf den neuesten Stand bringt und Notizbücher vollschreibt – die analogen und digitalen Werkzeuge, mit deren Hilfe sie mit Lamarck‘scher Hingabe alles um sich herum katalogisiert und kategorisiert. Momente der Naturschönheit werden ausbalanciert mit Aufnahmen, die Lucas dabei zeigen, wie sie sandige Gräber für tote Seevögel aushebt, sorgfältig Mikroplastik sichtet und bekümmert gefundene zerrissene Plastikplanen auf einer Leine aufhängt, als handle es sich um frisch gewaschene Wäsche.

Zwar verrät uns der Film, dass sich Lucas in den siebziger Jahren während des Kunststudiums einem Forschungsprojekt über Robben auf Sable Island anschloss, das von dem Psychologieprofessor Henry James geleitet wurde. (Sie war erst Köchin, dann James’ Forschungsassistentin. Irgendwann übernahm sie mehr und mehr Verantwortung.) Und doch vermeidet Mills biografische Details und rückt stattdessen Bilder und Geräusche von Lucas bei der Arbeit ins Zentrum. Die im Titel genannte Einsamkeit wird von der Entscheidung unterstrichen, Lucas als einzig anwesenden Menschen ins Bild zu setzen. Mit Ausnahme einer kurzen Einstellung, in der die strahlend blauen Augen der Naturforscherin zu sehen sind, die hinaus auf die graue Brandung starren, während der Rest ihres Gesichts unter einer dicken schwarzen Mütze, einer grauen Kapuzenjacke und dem bis zur Nase hochgezogenen gerippten Rollkragen ihres Pullovers verschwindet, gewährt uns der Film nur selten einen intimen Zugang zu seiner zentralen Figur. Stattdessen zeigt uns Mills Nahaufnahmen von Lucas’ Händen, wie sie dieses oder jenes tun, folgt der Film seiner Protagonistin in Totalen und Halbtotalen beim Streifzug durch die wogenden Dünen und flatternden Gräser der Insel, oder sieht ihr zu, wie sie in Süßwassertümpel watet und Plastikabfälle am Strand sammelt.

Von der Berührung geleitet

Mill unterstreicht ihren Ansatz mit ausgewählten Archivaufnahmen sowie fantastischen Experimenten mit Material von der Insel. Sie vergräbt ihren 35-mm-Film in Pferdemist und Pferdehaaren, im Sand und im Meerwasser, setzt ihn dem Nachtlicht aus und entwickelt ihn in Schafgarbe. Mills antwortet auf die vielen Einstellungen, die Lucas dabei zeigen, wie sie mit der Hand durch das Gras streift oder die von der Sonne gebleichten Pferdekadaver berührt, mit eigenen, selbstgestalteten Techniken der Filmentwicklung per Hand und intensiviert so das Gefühl der Verwandtschaft zwischen der Naturforscherin und den nichtmenschlichen Bewohner*innen der Insel. Durch diese zufälligen Kollaborationen, die in verblüffend unterschiedlichen Abstraktionen resultieren, entwirft Mills eine modellhafte Dokumentarpraxis, die das Ego zugunsten einer Art geteilter Autorschaft mit der Insel sublimiert. Das Resultat ist eine dokumentarische Begegnung mit der Natur, die nicht nur die eigene Beziehung zur Umwelt vermittelt, sondern dem Nichtmenschlichen ermöglicht, buchstäblich seinen Eindruck auf dem Film zu hinterlassen – und so eine üblicherweise nicht für möglich gehaltene kinematografische Perspektive erlaubt.

Mills antwortet auf die vielen Einstellungen, die Lucas dabei zeigen, wie sie mit der Hand durch das Gras streift oder die von der Sonne gebleichten Pferdekadaver berührt, mit eigenen, selbstgestalteten Techniken der Filmentwicklung per Hand

So ironisch es klingen mag, werden derartige Perspektiven möglich gerade aufgrund der für analoges Filmmaterial typischen Verwendung von mineralischen und tierischen Nebenprodukten. Film wird aus Plastik und Emulsion hergestellt. Letztere besteht aus Gelatine, die, zumindest teilweise, aus Tierknochen gewonnen wird. Für die Körnung des Films sind wiederum Silbersalze verantwortlich, die metallisch reagieren, wenn man sie dem Licht aussetzt. In GEOGRAPHIES OF SOLITUDE werden die Elemente der Insel so repräsentiert, wie der Film sie einfängt: Metall, Plastik, Tiere, auch der Hauch einer menschlichen Berührung. „Auf welcher Seite deine Lippen kleben bleiben“, erklärt Mills Lucas im Film, als sie gerade dabei sind, das Material im Strandgras zu deponieren, „da befindet sich die Emulsion.“

GEOGRAPHIES OF SOLITUDE ist ein Film über immersive Prozesse. Als Kind, sagt Lucas, fühlte sie sich zu „wilden und chaotischen Orten“ hingezogen. Ihre sorgfältigen, unermüdlichen Versuche werden aufgenommen, Sable Island Sinn abzutrotzen, indem sie das Verhalten seiner Bewohner*innen ganz genauso aufzeichnet wie das derjenigen, die für die Verschmutzung der Insel verantwortlich sind. Das findet seinen Widerhall in Mills’ Entscheidung, uns die Brandspuren und handgeschriebenen Buchstaben am Ende ihrer Filmrollen nicht vorzuenthalten, ebenso in der Beschreibung der Behandlung des Filmstreifens an verschiedenen Stellen mittels Voiceover und Zwischentiteln. Diese Interventionen reichen vom Anbringen eines Kontaktmikrofons durch Lucas im versunkenen, maroden A-Frame-Haus, das einmal James’ Forschungszentrale war, bis zum Rascheln der Käfer, das in Musik konvertiert wird. Dann wieder kündigt die Stimme der Filmemacherin aus dem Off an: „Das ist Rolle 41, 35-mm, vergraben zwischen Wacholderwurzeln“. Dann erleuchtet das dazugehörige Material die Leinwand. Pulsierend, wie es ist, erinnert es an silbrige Eisströme.

Zweite Leben

Irgendwann im Film erfahren wir, dass Lucas die letzten 15 dieser 40 hingebungsvollen Jahre damit verbracht hat, abertausende zerplatzte Heliumballons einzusammeln, wie sie, aus Bars, Hotels, von Geburtstagsfeiern und Politveranstaltungen überall in Nordamerika stammend, auf Sable Island angeschwemmt werden. Wir erfahren, dass sie versucht zu identifizieren, woher diese Ballons stammen, und dass sie das (natürlich) festhält; ja, dass sie selbst Briefe schreibt an die früheren Besitzer*innen, die sich mit ihnen haben feiern lassen, um sie über den ökologischen Preis solch ausgelassener Feste zu informieren. Sie zieht die Slogans der Ballons bisweilen auch auf Pappkarton auf, im Sinne eines auf Kunstprojekts, das zurückgewinnen möchte, zurückfordert – eine Form des Recyclings. Mills baut diese Technik daraufhin in ihre eigene Praxis ein und verschafft dem vermeintlichen Abfall so ein zweites Leben als filmische Attraktion: In einer Sequenz mit dem Titel „Sable Island Balloon Ribbon Spliced to 35mm Film“ stehen im Zentrum der Einstellung tanzende orangene Splitter auf blauem Grund. So verschleiert der eigentliche Referent auch sein mag, der Effekt ist großartig. Auf ähnliche Art und Weise zeigt „Microscopic Sable Island Balloon Litter with Atlantic Ocean Water“ eine Reihe von kristallinen Formen, umgeben von schwimmenden Pantoffeltierchen.

GEOGRAPHIES OF SOLITUDE begreift das Rätsel des Allein-Seins ebenso als Reihe diverser Momente des Mangels wie als Möglichkeit für eine entschiedene und bewundernswerte Form der Unabhängigkeit, die sich dessen bewusst ist, dass unsere Existenz stets eingebunden ist in höchst diverse und komplexe Systeme

Die gemeinsamen, verdoppelten Bemühungen der Naturwissenschaftlerin und der Filmemacherin führen zu glücklichen Zufällen, was die Bilder und den Soundtrack angeht. Sie lassen aber auch erahnen, dass die Hingabe an ein solches Bemühen ohne schwere Entscheidungen oder gar verpasste Chancen nicht zu haben ist. GEOGRAPHIES OF SOLITUDE begreift das Rätsel des Alleinseins ebenso als Reihe diverser Momente des Mangels wie als Möglichkeit für eine entschiedene und bewundernswerte Form der Unabhängigkeit, die sich dessen bewusst ist, dass unsere Existenz stets eingebunden ist in höchst diverse und komplexe Systeme, an denen sie Anteil nimmt. Nicht, dass sich die menschliche Perspektive komplett tilgen ließe, aber der gemeinsame Ansatz von Lucas und Mills ist offen gegenüber Begriffen von Andersheit und Zufälligkeit und bietet ein Beispiel dafür, wie aus der Sorge um das Nichtmenschliche eine erweiterte und bereichernde Selbstpositionierung als Subjekt erwachsen kann – mit Rücksicht auf den Planeten im Gesamten.

Gregory Zinman ist Associate Professor an der School of Literature, Media, and Communication am Georgia Institute of Technology und der Autor von „Making Images Move: Handmade Cinema and the Other Arts“ (University of California Press).

Übersetzung: Dominikus Müller

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