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Die Idee, eine Arbeiterkammer als Interessensvertretung der Beschäftigten zu schaffen, reicht zurück bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zunächst lag dem vor allem die Idee zugrunde, den 1848 gegründeten Handels- und Gewerbekammern der Unternehmerschaft etwas entgegen zu halten. Die Handelskammern waren als offizielle Repräsentanz der Unternehmer gegründet worden und konzentrierten sich darauf, den politischen Prozess zugunsten ihrer Klientel zu beeinflussen, wie etwa anhand der Gewerbeordnungsnovellen oder der frühen Sozialgesetzgebung (beides in den 1880ern) ersichtlich wird. Ab 1868 stand den Handelskammern dafür im Abgeordnetenhaus des Reichsrates sogar eine eigene Kurie zur Verfügung. Die Uridee der Arbeiterkammer war es also, das Instrument der Handelskammer „von unten“ zu „spiegeln“ und der ansonsten von jeder Mitbestimmung ausgeschlossenen Bevölkerungsmehrheit über ihren Erwerbsstatus politische Mitsprache zu verschaffen.

Die Habsburgermonarchie war der Idee demokratischer Einflussnahme, geschweige denn, organisierter Interessensdurchsetzung, wenig aufgeschlossen. Entsprechend geringer Erfolg war den Bemühungen, Arbeiterkammern einzurichten bis 1918 beschieden. Das änderte sich allerdings mit dem Ersten Weltkrieg und dem namenlosen Elend, das dieser auch im Hinterland verursachte. Diese Erfahrung untergrub binnen weniger Jahre die Legitimation der Monarchie völlig.

Ab 1917 begannen Sozialdemokratie und Gewerkschaften, sich aktiv auf eine politische Transformation vorzubereiten. Innerhalb der österreichischen Arbeiterbewegung herrschte weitgehend Konsens darüber, dass die neue Ordnung nicht nach russischem Vorbild durch eine Diktatur des Proletariats erzwungen werden sollte, sondern auf legalistischem Weg eine politische Neuordnung unter Beibehaltung der bürgerlichen Besitzordnung erreicht werden sollte. Die Arbeiterbewegung bereitete sich darauf vor, in einer bürgerlichen Demokratie Regierungsfunktionen zu übernehmen.

Gegenelite mit eigenem Wissensapparat

Anders als die britische Labour Party 1924, die diesen Irrtum politisch teuer bezahlen sollte, waren sich die handelnden Akteure in Österreich bewusst, dass sie allenfalls eingeschränkt auf die vorhandenen Verwaltungseliten wie auch auf die existierenden Wissensapparate würden zählen können, in denen ganz überwiegend konservativ geprägte Beamte und Hochschullehrer bestimmend waren.

Die ab 1917 neuerlich aufgegriffene und zunehmend stärker ventilierte Idee einer Arbeiterkammer setzte an diesem Punkt an: Die AK sollte den Kern einer Gegenelite bilden, einen eigenen Wissensapparat der Arbeiterbewegung, der es ermöglichen sollte, in legistischen Fragen, aber vor allem auch hinsichtlich der Wirkungsabschätzung einzelner politischer Maßnahmen unabhängig von den bürgerlich dominierten Wissensapparaten (Universitäten und Ministerialbürokratie) Entscheidungen treffen zu können. Zudem sollte die Arbeiterkammer durch die Unterstützung und Ausbildung der neu geschaffenen Betriebsräte helfen, die neu durchgesetzte wirtschaftliche Mitbestimmung mit Leben zu erfüllen. Aus Sicht der Unternehmerschaft und antidemokratischer Gruppierungen in der Ersten Republik war die AK daher Teil einer Entwicklung, die es durch einen autoritären Regimewechsel zu überwinden galt.

Dennoch folgte auf den christlichsozialen Staatsstreich 1933/34 nicht die Auflösung, sondern eine Umfunktionierung der AK. Diese wurde von einer eigenständigen Institution zu einem Büro der austrofaschistischen Einheitsgewerkschaft degradiert. Der prägende Unterschied zur Ersten Republik bestand darin, dass die Gründungsidee der AK durchaus von antagonistischen Klasseninteressen ausgegangen war, während das neue Regime eine prinzipielle Interessensdivergenz zwischen Arbeit und Kapital in Abrede stellte. Nachdem die Kammer ein einem solchen korporatistischen Setting keine Interessenspolitik über Gebühr betreiben sollte, widmete sie sich verstärkt fürsorgerischen und kulturellen Aktivitäten. Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1938 wurde die AK zerschlagen, ihr Vermögen verleibten sich die Deutsche Arbeitsfront und andere staatliche Stellen ein.

Sozialpartnerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Wiedererrichtung der AK nach 1945 verwies dann bereits auf einen nachhaltigen Wandel des politischen Systems: Die Arbeiterkammer war ab 1947 maßgeblich in das Zustandekommen der Lohn-Preis-Abkommen involviert, die den Ausgangspunkt für das System der österreichischen Sozialpartnerschaft bildete. Bundeskanzler Bruno Kreisky charakterisierte die Sozialpartnerschaft treffend als „Klassenkampf am grünen Tisch“, als Versuch, soziale Interessensgegensätze auf dem Verhandlungsweg durch Kompromisslösungen auszuräumen.

Bis in die 1980er prägte dieser fein austarierte konsensdemokratische Ansatz maßgeblich das politische Geschehen im Land. Die tragende Rolle der AK schlug sich innerhalb dessen nicht zuletzt im Arbeiterkammergesetz 1954 nieder. Während das erste AKG von 1920 als Aufgabenbereich lediglich von der „wirtschaftlichen und sozialen“ Interessenswahrnehmung gesprochen hatte, kam nun als dritte Sphäre die kulturelle Interessenswahrnehmung hinzu, deutlich wurde hier also der Anspruch einer umfassenden Vertretung. Zugleich war diese Definition aber auch für Konservative deutlich anschlussfähiger, als eine Klassenorganisation in dem engen Sinne, wie die AK in der Ersten Republik gewesen war.

Der Hintergrund war klar: 1945 war das System parteinaher Richtungsgewerkschaften durch formal parteiunabhängige Einheitsgewerkschaften ersetzt worden. Konservative Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter standen damit nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb einer Struktur, die zwar sozialdemokratisch dominiert war, Konservativen aber Minderheitenrechte und eine gewisse Berücksichtigung ihrer Anliegen zugestand. Eine immer wiederkehrende Forderung sowohl der ÖVP- als auch FPÖ-Arbeitnehmerorganisationen seit den 1960ern war eine stärkere Entkopplung der AK als „allgemeiner“ Interessensorganisation von der gewerkschaftlichen „Klassenorganisation“. Die AK solle, so der Tenor, ein eigenständiges Service- und Beratungsangebot bereitstellen, statt direkt und indirekt bloß dem Österreichischen Gewerkschaftsbund zuzuarbeiten.

Krise und neue Relevanz

Inmitten der tiefen Krise, in die die AK in den 1980ern primär aufgrund eigener Versäumnisse und Fehler schlitterte, suchte auch die sozialdemokratische Mehrheitsfraktion intensiv nach neuen Legitimitätsmustern. Das Wegbrechen einer sicher geglaubten Akzeptanz innerhalb der eigenen Mitglieder, die sich in Umfragen plötzlich zeigte, eröffnete den Raum, sich konstruktiv mit bis dahin abgelehnten Ideen auseinander zu setzen. Das Ergebnis war der im Arbeiterkammergesetz 1992 verankerte Rechtsschutz, heute jenes Tätigkeitsgebiet, mit dem die AK öffentlich sicherlich am stärksten assoziiert wird. Er war in gewisser Weise der Versuch, die korporatistisch angehauchte Idee einer eigenständigen, heißt von den Gewerkschaften möglichst unabhängigen Interessensvertretung zu kombinieren mit dem reformistischen Ideal eines Think Tanks der Arbeiterbewegung, der die Gewerkschaften nicht ersetzen sollte, sondern ihre Stellung im Staat, aber auch in der Rechtdurchsetzung stärken und sie als Kampforganisation der Arbeitnehmer*innen freispielen sollte.

Dieses Experiment gelang. Ungeachtet der stark rückläufigen Bedeutung der österreichischen Sozialpartnerschaft hat die AK erfolgreich ihre Legitimitätskrise überwunden und verzeichnet mittlerweile als Institution neben dem Bundespräsidenten die höchsten Vertrauens- und Beliebtheitswerte in der österreichischen Bevölkerung. Statt die Gewerkschaften, wie auch diese selbst zeitweise besorgt waren, zu ersetzen, hat die AK fraglos dazu beigetragen, die Schlagkraft außerparlamentarischer Interessensdurchsetzung zu erhöhen und etwa in Diskussionen um die Zukunft des Sozialsystems die Bewältigung von Wirtschaftskrisen oder der aktuellen Pandemie pragmatische Lösungen im Sinne der Beschäftigten voranzutreiben.

Die Arbeit der AK hat nicht zuletzt die Rechtsprechung in Österreich entscheidend geprägt. So zeigt eine Studie aus dem Jahr 2014, die sich der Rechtsprechung heimischer Arbeits- und Sozialgerichte im Vergleich zu 1990 widmete (also zur Phase, bevor die AK Beratung und Rechtsschutz angeboten hatte), einen enormen Anstieg von Arbeiter*innen als die Klage führende Partei: hatten vor der Reform 1992 hauptsächlich Angestellte den Rechtsweg bestritten, waren 2010 fast zwei Drittel der Kläger*innen Arbeiter*innen. Wurde früher mit Arbeitgeber*innen nur um große Beträge gestritten, nahm der Streitwert entschieden ab: Unterstützt von der Arbeiterkammer sind Arbeitnehmer*innen seither offensichtlich nicht mehr bereit, auch „kleinere“ Ungerechtigkeiten widerspruchslos hinzunehmen.

Florian Wenninger, 43, ist Historiker und leitet das Institut für Historische Sozialforschung in Wien.

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