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Damit ein Bild erscheint, muss erst Licht fallen. Was man dann sieht, hängt von der Lichtquelle ab. In einem Schnellrestaurant, das vom weißlichen Licht der Hängelampen über den Tischen beleuchtet wird, sieht man einen Mann, der arbeitet. Er reinigt den Boden mit einem Staubsauger, der fast kein Geräusch macht. Der Mann beugt sich beim Saugen vor. Setzt einen Fuß neben den anderen, dann stellt er ihn wieder zurück im Rhythmus eines Liedes, dessen Sängerstimme fragt, wohin die Wolken gehen, wenn sie über den Himmel ziehen. Ob sie, so wie Menschen, älter werden und irgendwann sterben. Der Mann ist Schwarz. Er beugt und beugt sich über den Staubsauger, während er den Boden des leeren Restaurants reinigt. Dann wendet er den Kopf und blickt kurz über seine rechte Schulter zurück. Jetzt erscheint ein weiterer Mann. Er sitzt an einem Tisch weiter hinten. Ein Kunde im ansonsten leer wirkenden Imbiss. Er hält Dollarscheine in der Hand und blickt in Richtung des ersten Mannes, der jetzt verschwunden ist. Dann zählt er die Scheine ab, um seine Rechnung zu bezahlen. Auf seinem Tisch liegt ein Papier, an dessen Rand das Wort „Social“ steht. Der Mann ist weiß. Das Lied nimmt die Kantine ein, es breitet sich zwischen den zwei Männern aus. Der Sänger fragt: „When you see the small cloud passing by, do you ever stop to wonder, if he is lonely, like you and I?“

Das Schnellrestaurant, das womöglich den Namen Social trägt, befindet sich in einem kleinen Städtchen, in dem das soziale Leben versiegt und die sozialen Unterschiede verwischt sind. Ein Unglück ist über das Städtchen hereingebrochen, und nun spricht dort keiner mehr. Immer, wenn ein Mensch auftaucht, verschwindet der andere, und wenn es einmal doch dazu kommt, dass sich zwei Personen am selben Ort befinden, verschlägt es ihnen die Sprache. Eine lange Nacht hat sich über das Städtchen gesenkt. Ihre Dunkelheit wird nur noch vom weißen Licht der Polizeistreifen, vom silbernen Licht der Fernseher und vom blauen Licht der Mobilgeräte unterbrochen. Das weiße Licht der Polizei ist das brutalste. Wenn es an Hauswänden entlang kriecht und in Menschenaugen fällt, macht es sie müde. Aber es ist eine besondere Art von Müdigkeit. Sie entleert die Augen, bis sie nichts mehr sehen, außer Erinnerungen. Alles Leben erstarrt unter dem Licht der Überwachung und Gewalt, es gerinnt zu einem breiigen Mus aus Erinnerungen. Nichts als kalte Erinnerungen.

Die Sehnsucht breitet sich aus und wird zum Weiher, um den die schweigenden Körper sitzen

In jener langen Nacht ist keiner wach und keiner schläft. Diejenigen, die die Häuser bewohnen, sitzen darin und blicken mit müden Augen ins Licht, das ihre Zimmer durchflutet. Sie sagen nichts. Selbst, wenn sie hin und wieder versuchen, Freunde anzurufen, antwortet ihnen nur eine Computerstimme. Im Licht der Polizeistreifen, das von draußen hereinscheint, wirkt das Leben in den Häusern der Mittelschicht wie ein Tatort. Ihre Sofas, ihre Möbel, ihre Fotos, ihre Stühle, ihre Bücher, Kleider, Zierpflanzen, Zierfische und die Spielsachen ihrer Kinder: Jedes Detail erstarrt unter diesem Licht zum tristen Beweisstück, das verwahrt werden muss, weil es sich womöglich bei den Ermittlungen noch als nützlich erweisen wird. Doch ist das Verbrechen, dass so ein dumpfes Leben einfach so stabil weiterläuft. Aber es ist eine besondere Art von Verbrechen. Ein Verbrechen, das die Polizei nämlich gar nicht lösen oder unterbinden will, sondern sie schickt ihre Nachtstreifen nur aus, um zu gewährleisten, dass es ungehindert weitergeht.

Aus diesem Verbrechen gibt es nur einen Ausweg. Es muss ein Gegenverbrechen geben. Ein Verbrechen namens Sehnsucht. In dieser endlosen Nacht gibt es keine Hoffnung für die Körper, sich von der sozialen Kälte zu befreien, in der sie leben. Außer, wenn sie hinausziehen, in die tiefe Dunkelheit, weit abseits vom weißen und blauen Licht. Damit der Plan gelingt, muss die Sehnsucht Rollschuhe tragen, damit sie leicht und schnell wird. Sie muss ein Meister des Verschwindens werden, vor den Blicken von Nachbarn und Schaulustigen. Unbemerkt muss sie dem Elend der Häuser entfliehen und ihre müden Augen vor dem grellen Licht zukneifen. Einzig über den Ton muss sie sich orientieren. Sie wird erst die ausgeschilderten Straßen entlanggleiten, aber nur um dann seine Beobachter auszutricksen, indem sie abrupt von der Straße abfährt. Nun gleitet sie in ein gelbes Maisfeld in der Ferne. Ein Feld, das im Grillenzirpen der Nacht und im Rauschen der Maisstängel versinkt. Dann breitet die Sehnsucht sich aus und wird ein Weiher, um den nun die schweigenden Körper sitzen. Hier, weitab von den Blicken, wird sich wieder Wärme zwischen ihnen ausbreiten. In den Körpern, die den Tatort hinter sich gelassen haben, pulsiert nun das Leben. Jetzt, wo sie zurück zur „Natur“ gekehrt sind.

Jedoch verschwindet in jener Natur eine andere Natur. Eine Natur, die in Dunkelheit gehüllt ist und die sich jenen Körpern entzieht. Eine Natur, die man in keiner anderen Lichtquelle sehen kann, außer im Streiflicht und dem Licht der Mobilgeräte. Eine Art Anti-Licht, wie Sean Bonnie es nennt. Ein schwaches Licht, das von Vergangenheiten herüberscheint, die noch nicht vorbei sind; von unvermittelten Aufständen gegen die Gewalt des beständigen Lebens. Und auch wenn das Licht schwach ist, sind seine Strahlen doch so fein und scharf, dass sie in der Lage sind, ganze Kontinente zu zerschneiden. Unter diesem Licht erwachen neue Sinne und Wesen, die für das bloße Auge unsichtbar sind. Da sind Massen auf der Flucht, die wechseln Worte, die mit bloßem Ohr nicht vernehmbar sind. Da sitzen zwei Eulen auf dem Ast eines Baumes am Feldrand.

Die Polizei jagt uns und tötet unsere Geschwister.

Sie wird sie nicht vorbeilassen.

Im Wald ist es stockdunkel.

Die Scharfschützen sind überall.

Grenzen überquert man im Dunkeln.

Die Natur gehört den Menschen, die Geschichte gehört uns.

Bären werden ihre Fußspuren verwischen.

Eichhörnchen haben in jedem Winkel des Waldes ihr Futter versteckt.

Rau ist die Erde unter ihren Füßen.

Sollten sie es heil durch den Wald schaffen, werden sie das Städtchen bald erreichen.

Ob sie dort Arbeit finden?

Wir flohen vor der Katastrophe ohne Ende.

Wir überquerten das Meer. Wir überquerten die Wüste.

Wir haben nicht genug Wasser.

Unsere Körper hat der Erdboden verschluckt.

Wir reden und reden und reden, aber keiner hört uns zu.

Wir sind Wölfe. Wir sind Schmetterlinge. Wir sind Wolken.

Wir sind die Passanten. Wir sind Emigranten. Wir sind die Entfremdeten.

Wir sind die Worte, die keiner jemals ausgesprochen hat.

Die Einsamkeit gehört den Menschen, die Entfremdung gehört uns.

Dann verstummen sie. Und in der Abenddämmerung breiten sie die Flügel aus und fliegen über das Städtchen, über das eine Katastrophe hereingebrochen ist.

Dort ist ein Schnellrestaurant mit dem Namen Social, es wird von Anti-Licht erleuchtet. Ein Arbeiter reinigt gebeugt den Boden mit einem Staubsauger. Er setzt einen Fuß neben den anderen, dann stellt er ihn wieder zurück. Der Arbeiter hört den Lärm des Staubsaugers. Der Rüssel des Staubsaugers saugt den in den Borsten des Teppichs festhängenden Schmutz ein. Dann saugt er die Borsten des Teppichbodens ein, dann den Boden selbst, dann die Stühle und alle, die darauf sitzen. Dann die Polizeistreifen und die asphaltierten Straßen, die sie entlangbrausen. Er saugt die Leuchtreklamen ein und die Mauern. Er saugt das weiße Licht ein, und das blaue. Er saugt die Bildschirme von Fernsehern ein, von Handys und privaten Überwachungskameras. Er saugt Gedenkporträts und Medaillen ein. Dann das Abwasser aus den Schwimmbädern, dann die Schwimmbäder und die Häuser. Schließlich saugt er das ganze Städtchen ein. Und der Mann beugt sich über den Staubsauger, dessen Lärm jetzt so laut ist, dass man es nicht aushalten kann. Er aber hört dem Lärm gelassen zu, während er einen Fuß vor den anderen setzt, und ihn dann wieder zurück an seinen Platz stellt.

Haytham El-Wardany ist Schriftsteller und Übersetzer, seine letzte englischsprachige Veröffentlichung ist „The Book of Sleep“ (Seagull Books, 2020).

Übersetzung: Sandra Hetzl

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