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Ich war ein paar Mal bei meiner Großmutter in ihrer Heimatstadt Fuzhou,
vor allem als ich noch zu jung war, um mich daran zu erinnern.

Bei unserem letzten Besuch ging es Großmutter noch gesundheitlich besser als jetzt.
An einem sonnigen Nachmittag machten wir einen Spaziergang am Min-Fluss.
Sie wollte mir zeigen, wo sie einmal gewohnt hatte.
Ich kenne das Haus. Direkt unter den Wohnzimmerfenstern war ein Markt.
Der Raum war von Umgebungsgeräuschen erfüllt,
zum Beispiel von den Nachrichten- und Musiksendungen im Radio.
Damals schossen mein Cousin und ich gern mit Wasserpistolen auf die Straße.
Wenn uns jemand dabei erwischte, duckten wir uns schnell weg. Wir hatten eine diebische Freude an diesem Spiel.

Nachdem wir etwa eine Stunde spaziert waren, hatte sie das Haus noch nicht gefunden.
Eine lange Reihe nagelneuer Wohnkomplexe versperrte ihr die Sicht.
Wir konnten das Haus nicht entdecken.
Großmutter setzte sich auf eine Bank mit Blick auf den Fluss und erzählte mir, dass sie einmal in einen Matrosen verliebt war. Er ging fort und kehrte nie wieder zurück. Sie riet mir, meine Liebe zu finden und nie wieder loszulassen. Später erzählte ich meiner Mutter von der Geschichte. Sie hörte sie zum ersten Mal. Großmutter und ihre Generation können sehr gut Geheimnisse für sich behalten.

Vielleicht hatte ich deshalb nie von meinem Urgroßvater gehört, bevor sie mich 2013 überraschend eines Abends in meinem Wohnheim am College anrief. Sie fragte mich, ob ich Lust hätte, nach Myanmar zu reisen. Sie sagte, ihr Vater hätte dort gelebt.

Doch die Familienreise sollte erst fünf Jahre später stattfinden.
Verglichen mit Großmutter, die nach Urgroßvaters Abreise ihr ganzes Leben lang gewartet hatte, war das recht schnell.

Dann erzählte sie mir von ihrem Vater, doch die Geschichten wiederholten sich immer häufiger.

„Er war ein sehr gutaussehender Mann.“
„Abends ging er oft aus, zu Abendessen, Sitzungen, Versammlungen. Ich ging erst ins Bett, wenn er wieder zu Hause war. Weil er mir immer diese gedämpften Reisbrötchen mitbrachte. Die waren so lecker. Ohne die nächtlichen Snacks, die er für mich kaufte, war ich nicht ins Bett zu kriegen.“
„Er arbeitete damals an der Theaterkasse. Mutter bügelte seine Hemden und Hosen jeden Tag. Er war ein sehr gepflegter Mann.“

Lange Zeit war von Urgroßvater nur im Zusammenhang mit seinen späteren Geschäften in Myanmar erzählt worden.

Urgroßmutter hat ihn in den fünfziger Jahren einmal besucht. Doch damals durften Frauen, vor allem Frauen ohne myanmarischen Pass, nicht auf die Straße gehen. Nach einem kurzen Aufenthalt kehrte sie zurück nach China. Ich fragte meine Mutter, ob sie noch mehr darüber wusste. Sie erzählte mir, dass Großmutter ein Tagebuch geführt hatte. Sie selbst habe zwar nie hineingeschaut, ihre Schwester aber schon. Daraufhin fragte ich meine Tante. Sie gab es nicht zu.

Während der Dreharbeiten zu diesem Film brachte ich meine Freundin Zoe mit nach Hause, um sie meiner Großmutter vorzustellen.
Ich filmte Großmutter, wie sie ihre Zehennägel mit einer großen Schere schnitt.
„Weiß deine Mutter von euch beiden?“
„Was denn?“
„Dass ihr ein Paar seid.“
„Das hast du bemerkt?“
„Natürlich habe ich es bemerkt.“
Und sie sagte: „Verhaltet euch besser nicht zu auffällig. Die Gesellschaft geht nicht allzu tolerant und freundlich mit Mädchen um, die ein Paar sind ... Doch an der Schule und in der Kunstszene kommt es häufig vor.“

Wie es scheint, bin ich ihrem Rat nicht gefolgt.

Xinyuan Zheng Lu

Übersetzung: Kathrin Hadeler

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