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Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Fastfood-Restaurant und bestellen einen Burger. Während Sie auf Ihre Bestellung warten, hoffen Sie, dass die Bedienung alles richtig verstanden hat und Ihnen eine Tüte überreicht, die exakt das von Ihnen bestellte Essen enthält. Manchmal geschieht genau das und Sie empfinden ein großes Erfolgsgefühl und Dankbarkeit. Bei einer anderen Gelegenheit bekommen Sie die extrascharfe Sauce, mit der sie sich den Mund verbrennen, und das Huhn, das Ihr Kind nicht mag. Wenn das geschieht, empfinden Sie Scham- und Schuldgefühle. Nicht einmal eine Sekunde lang spielen Sie mit dem Gedanken, die falsche Bestellung zurückzugeben und um Ersatz zu bitten.

Klingt das ungewöhnlich? Es geht hier nicht um eine Person mit einer Angststörung oder einer Sozialphobie, sondern um Eingewanderte, die die Sprache ihres neuen Landes (noch) nicht (gut) beherrschen. Es ist die Geschichte dreier Einwanderinnen aus Kolumbien und Mexiko in Kanada, die in MIS DOS VOCES (My Two Voices)  erzählt wird.

Eingewanderten eilt häufig der Ruf voraus, dass sie nur ungern Sprachen lernen. Es mangelt nicht an Politiker*innen und Medienpersönlichkeiten, die Eingewanderte dafür dämonisieren, die Sprache ihrer neuen Heimat nicht lernen „zu wollen“, und sie dazu ermahnen, „Eigenverantwortung“ zu übernehmen.

In Wirklichkeit ist das Erlernen einer neuen Sprache für erwachsene Eingewanderte unglaublich schwierig.

Besonders schwierig wird es durch die doppelte Herausforderung, eine neue Sprache zu erlernen und sich gleichzeitig im Alltag dieser Sprache bedienen zu müssen.

Das Bestellen eines Burgers bietet Sprachlernenden zum einen Gelegenheit, die neue Sprache anzuwenden, ist zum anderen aber auch eine Notwendigkeit, um das tägliche Leben zu meistern. Doch die Bedienung gibt keinen Sprachunterricht. Und die übrigen Kund*innen sind keine Mitlernenden aus der Sprachschule. Die Bedienung kann sich ungeduldig oder offen feindselig gegenüber Personen verhalten, die offenbar nicht einmal in der Lage sind, verständlich eine Bestellung aufzugeben. Und die übrige Kundschaft kann sie als lästig empfinden, weil sie die Schlange aufhalten.

Trotzdem ist das Bestellen eines Burgers noch eine recht einfache Angelegenheit. Ob Sie nun die extrascharfe Sauce oder Hühnchen anstelle von Rind bekommen, mag zwar an Ihrem Selbstvertrauen kratzen, doch es wird keinen großen Einfluss auf ihr grundsätzliches Wohlergehen haben.

Unstrukturierter Unterricht

In vielen Fällen steht weitaus mehr auf dem Spiel. Wenn Eingewanderte die neue Sprache noch lernen und sich gleichzeitig um eine Arbeitsstelle bewerben, Gesundheitsleistungen in Anspruch nehmen, sich um die schulische Bildung ihrer Kinder kümmern wollen oder mit häuslicher Gewalt zu kämpfen haben, stehen sie immer vor der doppelten Herausforderung, dass sie gleichzeitig die Sprache lernen und ihr Leben mit Hilfe dieser Sprache meistern müssen.

Es gibt keinen strukturierten Lehrplan für den Spracherwerb von Eingewanderten in Kanada. Vielleicht haben sie sich gerade erst die Kunst der Burger-Bestellung angeeignet, doch die nächste Lektion, in der es darum geht, wie man sich bei Problemen beschweren kann, ist womöglich nicht vorgesehen.

Hinzu kommt, dass „Lehrkräfte“ – die natürlich technisch betrachtet keine Lehrkräfte, sondern Gesprächspartner*innen sind, mit denen sich die Lernenden auseinandersetzen müssen – möglicherweise unterschiedliche und manchmal auch widersprüchliche Inhalte unterrichten.

Wenn diese Unterrichtsinhalte auf eine Gesellschaft treffen, die kein Verständnis für die Schwierigkeiten von Eingewanderten hat, die eine neue Sprache lernen, kann dies katastrophale Folgen haben.

Eine der Frauen in MIS DOS VOCES  berichtet davon, wie ihr im Frauenhaus, in das sie vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflüchtet war, eingetrichtert wurde, niemals ihre Adresse preiszugeben. Sie hatte gelernt, ausschließlich eine Postfachanschrift zu nennen, um ihre und die Sicherheit der anderen Frauen in der Unterkunft zu schützen.

Leider verbinden Einwanderungsbehörden etwas völlig anderes mit Postfachadressen. Für sie diente die Tatsache, dass die Frau scheinbar keine feste Adresse hatte, als Anlass, sie in ein Abschiebegefängnis zu stecken. Es war völlig unerheblich, dass sie einen Wohnsitz hatte. In einer Welt, in der man das Leben in einer Sprache lebt, die man noch nicht beherrscht, muss man noch lernen, dass das Verschweigen einer Adresse gleichbedeutend damit ist, keine Adresse zu haben.

Das Selbst und die anderen

Dabei können Kontakte mit staatlichen Behörden, wie in diesem Beispiel, besonders großen Schaden einrichten. Sogar der Dolmetscher, der bei dem Gespräch mit der Einwanderungsbehörde anwesend war, hat nichts unternommen, um die Situation zu klären oder einzugreifen. Für die Frau fühlte es sich wie ein weiterer Verrat an, der ihr Gefühl der Ohnmacht zusätzlich verstärkte.

Wenn das Bestellen eines Burgers ein aufreibendes Erlebnis ist, weil Sie bei Problemen nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen, dann stellen Sie sich nur einmal vor, wie grauenvoll erst ein Gespräch mit der Einwanderungsbehörde sein muss: Das kleinste Missverständnis und Sie finden sich in Abschiebehaft wieder.

Doch die angebliche Unfähigkeit, die die Mehrheitsgesellschaft den Eingewanderten zuschreibt, ist nur ein Aspekt ihrer Lebensrealität. Dass Eingewanderte die Mehrheitssprache nur unzureichend beherrschen, ist nur ein Teil der Wahrheit. Um das eigene Leben mit Hilfe einer Sprache zu meistern, in der man nicht seit der Geburt sozialisiert wurde, braucht es unglaublich viel Mut und Tapferkeit.

MIS DOS VOCES macht diese mutigen und tapferen Menschen sichtbar. Zudem zeigt er die Frauen, wenn sie ihre Muttersprache sprechen, und zwar als lebendige, bezaubernde und kompetente Individuen mit spannenden und komplexen Biografien.

MIS DOS VOCES will also zum einen zeigen, wie schwierig es ist, als Erwachsener eine neue Sprache zu lernen, wenn die Bewältigung des Alltags ausschließlich über diese Sprache erfolgt. Zum anderen macht er die komplexen Erfahrungen der drei Frauen deutlich, die sie in ihrer Muttersprach weitaus beeindruckender schildern können, als sie es in der englischen Sprache jemals gekonnt hätten, wenn dies die Sprache der Wahl gewesen wäre.

Als solches ist der Film ein Plädoyer, die Zweisprachigkeit ernst zu nehmen.

Die Frauen empfinden ein Gefühl der Zugehörigkeit zur kanadischen Gesellschaft, seit sie Englisch so gut beherrschen, dass sie sich sowohl in ihrer spanischen als auch in ihrer englischen Stimme zuhause fühlen.

Für die Mehrheitsgesellschaft ist damit die Lektion verbunden, dass eine umfassende und ausgewogene soziale Inklusion auch über die Sprache erfolgt. Es bedarf daher institutioneller Regelungen, um den vielfältigen sprachlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen aller Mitglieder einer Gesellschaft Rechnung zu tragen.

Ingrid Piller ist Distinguished Professor für Angewandte Sprachwissenschaften an der Macquarie University in Sydney, Australien.

Übersetzung: Kathrin Hadeler

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