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In NUCLEAR FAMILY entführen Erin und Travis Wilkerson das Publikum auf einen Familienausflug zu Atomraketensilos im Westen der USA. Gegen Ende des Dokumentarfilms bricht die Wilkerson-Familie beim Rundtanz um eine Rakete zusammen, nachdem sie die letzte Zeile des englischen Ringelreihens „Ring a Ring o’ Roses“ intoniert hat: „We all fall down“ („Wir fallen alle um“). Dieser familiäre Kollaps vor der bedrohlichen Macht der Waffe erinnert an die Parodie eines Kinderliedes, das 1949 im „Observer” abgedruckt wurde und in der kein Blumenstrauß, sondern Uran besungen wird: „Ring-a-ring-o'-geranium, A pocket full of uranium, Hiro, shima, All fall down!“. 

Nuklearismus

Das von Robert J. Lifton und Richard Falk beschriebene Phänomen des „Nuklearismus” bezeichnet die psychologische, politische und militärische Abhängigkeit von Nuklearwaffen und die Annahme, mit ihrer Hilfe könne eine Vielzahl menschlicher Dilemmata gelöst werden, darunter absurderweise vor allem auch das Sicherheitsdilemma. NUCLEAR FAMILY stellt die These auf, dass dieser Nuklearismus nicht nur symptomatisch für das 20. Jahrhundert ist, sondern die Menschheit auch unablässig in Versuchung führt.  Die Filmschaffenden wollen vor allem auch die „nukleare Normalität“ durchbrechen, die Lifton und Eric Markusen als zunehmende Akzeptanz von Kernwaffen durch ihre Verbreitung und die Profanisierung der damit verbundenen Ängste definieren.  Heutzutage steht die nukleare Normalität für ein abgestumpftes, aber ultra-ausgeprägtes Bewusstsein, das mit ambivalenten Gefühlen verbunden ist. Die Öffentlichkeit ist inzwischen so konditioniert, dass sie die nukleare Bedrohung als unvermeidlich betrachtet. Auf diese Weise wird die Bedrohung nach Ansicht der Autoren zur Normalität und den Menschen werde irgendwann bewusst, dass sie selbst und alle Menschen um sie herum und alles, was sie je berührt oder geliebt haben, von einem Moment auf den anderen ausgelöscht werden könnten. Und doch gehen sie alle ihren täglichen Routinen nach, als ob es eine solche Bedrohung nicht gäbe.  Die nukleare Normalität wird im Film direkt angesprochen, wenn Travis davor warnt, dass fast jede Grausamkeit inzwischen zur Normalität geworden sei und mittlerweile sogar versucht werde, den Abwurf von Atombomben als normal zu bezeichnen.

Travis kommt in seinen Kommentaren im Verlauf des Films immer wieder auf die offene Landschaft zurück und erinnert sich selbst wie auch uns an die Traumata, die dieses Land erlebt hat, und daran, wie heimtückisch es über die Jahrhunderte als Waffe eingesetzt wurde

Doch die Wilkersons sind noch nicht abgestumpft vom Nuklearismus. Nach einer ambivalenten Phase im Erwachsenenalter wurde Travis durch Schlüsselereignisse wie die Präsidentschaftswahlen 2016 und die irrtümliche Veröffentlichung der „Joint Publication Number 3-72“ des Pentagon zum Einsatz von Atomwaffen erneut von Alpträumen geplagt und verspürte von Neuem eine starke Desillusionierung angesichts des Atomprogramms der USA. Der Roadtrip mit der Familie durch die westlichen Bundesstaaten ist ein Versuch, diese wachsende Angst einzudämmen. Doch Travis kommt in seinen Kommentaren im Verlauf des Films immer wieder auf die offene Landschaft zurück und erinnert sich selbst wie auch uns an die Traumata, die dieses Land erlebt hat, und daran, wie heimtückisch es über die Jahrhunderte als Waffe eingesetzt wurde.

Gefährliche Technologie

In den Einstellungen, die zwischen Bildern von Gebäuden, Explosionen und Landschaftsaufnahmen wechseln, hallt die Botschaft der Regisseur*innen wider: Die Gefahr einer Apokalypse ist allgegenwärtig, sie drängt sich in das Familienleben und überschattet alles wie eine radioaktive Wolke. Doch in NUCLEAR FAMILY wird nicht nur auf die Gefahr eines möglichen Atomkriegs verwiesen, sondern auch auf das rücksichtslose Vorgehen der Atomindustrie. Berichte über eine verstrahlte Belegschaft in Grover Colorado kommentiert der Erzähler mit den Worten: „Sie haben das Land zu einer Waffe gemacht, die heute schief geladen ist und taumelt.“ Mit Begriffen wie „schief geladen“ und „taumeln“ will er das Bild einer betrunkenen, torkelnden Belegschaft sowie das Gefahrenpotenzial der Technologie heraufbeschwören.

Der Film beginnt mit einer Definition. „Invasive Arten“, so heißt es, seien alle Arten von lebenden Organismen, die in einem Ökosystem nicht heimisch sind und Schaden anrichten. Mit fortschreitender Handlung wird immer deutlicher, dass wir selbst diese invasive Art sind. Durch Referenzen auf Massaker, Völkermord, das Aussterben des Volks der Anasazi und schreckliche Kriegshandlungen wie den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki kommt NUCLEAR FAMILY immer wieder auf das Thema der Apokalypse und der Kriegsbesessenheit des Menschen zurück. Wir werden unablässig daran erinnert, dass sich – in vielen Fällen bewusst herbeigeführte – Katastrophen wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit ziehen.

Zwei ineinandergreifende Hände

Wenn die Wilkerson-Familie durch den White Sands National Park in New Mexico wandert, sinniert Travis im Voiceover, dass man sich gar nicht weit vom Testgelände entfernen müsse, um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie die Welt hätte aussehen können. An dieser Stelle belehrt er uns, dass wir keine Blockbuster aus Hollywood anschauen müssten, um uns vorzustellen, wie das Ende der Welt aussehen könnte. Wir müssten uns lediglich mit unserer eigenen Geschichte und den von unseren Vorfahren geerbten blutigen Landschaften auseinandersetzen. Die Verbindung zwischen der mörderischen Vergangenheit und einer möglichen apokalyptischen Zukunft kommentiert der Erzähler mit seinen Gedanken zum Sand-Creek-Massaker im Jahre 1864: Die Ausrottung der Kultur der amerikanischen Ureinwohner und die drohende Zerstörung des Planeten greifen wie die Finger zweier Hände ineinander.

So wie sich die Menschheit an Raketensilos in abgelegenen Gebieten gewöhnt hat, werden die Mitglieder der Familie in diesem Film zu Teilnehmenden einer nuklearen Pilgerreise von einem Denkmal der Apokalypse zum nächsten

Der Philosoph Jacques Ellul stellte in seinem einflussreichen Werk „The Technological Society” (1954) die These auf, die menschliche Umwelt sei durch die starke Dominanz der Technologie unmenschlich geworden: „Der Mensch lebt heute unter mehr als unmenschlichen Bedingungen“.  Ähnlich argumentiert der Technikphilosoph Lewis Mumford in seinem Werk „Der Mythos der Maschine” (1974). Die Menschen hätten sich die Natur zunutze gemacht, um die technologische Innovation voranzutreiben, doch dieses Streben hätte die Menschheit von der Welt entfremdet. Die ausgeprägte Technisierung habe Generationen von Menschen hervorgebracht, die praktisch vergessen hätten, dass es jemals eine andere Art von Umwelt gegeben haben könnte. 

Durch die Gewöhnung der Menschheit an Raketensilos in abgelegenen Gebieten können die Mitglieder der Familie in diesem Film zu Teilnehmenden einer nuklearen Pilgerreise von einem Denkmal der Apokalypse zum nächsten werden. Aus Sicht von Travis, der sich an einen ähnlichen Roadtrip aus seiner Kindheit zu Silos in Montana erinnert, trifft Mumfords These, dass Menschen jede andere Art von Umwelt vergessen, nicht nur zu, sondern sie trifft auch einen Nerv, wenn der Erzähler eine ähnliche Reise mit seinen eigenen Kindern unternimmt und damit ein generationenübergreifendes Bild von der nuklearen Realität in der amerikanischen Landschaft zeichnet. Die Silos sind wie Flora und Fauna zu einem natürlichen Bestandteil der verschiedenen Szenen auf den Familienfotos geworden.

Etwa in der Mitte des Films erfahren wir die Geschichte des Berkeley Pit in Butte, Montana, einer ehemaligen Kupfermine, die mittlerweile mit verseuchtem Wasser geflutet wurde. In poetischen Worten beschreibt der Erzähler die raubtierähnliche Gefahr der Grube: „Das Raubtier hat die Stadt verschont, doch von dem Loch geht noch immer eine tödliche Gefahr aus. Es füllt sich immer weiter mit giftigem Wasser. Dieses Wasser ist derart säurehaltig, dass sich ein Propeller aus Stahl darin auflösen würde. Vögel lassen sich immer wieder auf dem Wasser nieder, obwohl sie mit Hilfe angsteinflößender Geräusche vertrieben werden sollen.“ Die detaillierte Beschreibung des Todeskampfs dieser Vögel nutzen die Filmemacher*innen gleichzeitig als Metapher: für die Kerntechnik als weitere Todesgrube. Auf die Menschen übt die Nukleartechnik, ungeachtet ihrer Gefahren, wie auch auf die Vögel am Berkeley Pit, eine Anziehungskraft aus. Die Botschaft von NUCLEAR FAMILY an das Publikum lautet: „Ob wir es wollen oder nicht, wir befinden uns auf einer gemeinsamen Reise.“ Hier liegt der Unterschied zwischen den Kriegen der Vergangenheit und einem möglichen Atomkrieg: In einem künftigen Krieg gibt es kein „sie gegen uns“, weil alle Menschen ausgelöscht werden. Wir müssen die Situation gemeinsam bewältigen – bis wir alle umfallen.

Grace Halden ist Senior Lecturer für moderne und zeitgenössische Literatur am Birkbeck College, University of London.

Übersetzung: Kathrin Hadeler

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