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Travis:

Es fühlt sich merkwürdig an, NUCLEAR FAMILY aus der heutigen Perspektive zu betrachten, nach all dem, was passiert ist, seit wir mit der Arbeit an diesem Film begonnen haben. Ich denke, die Apokalypse hat sich damals bereits am Horizont abgezeichnet. Doch diesen Horizont haben wir inzwischen alle überschritten. Die Apokalypse liegt hinter uns, vor uns, und wir stecken gleichzeitig auch mittendrin. Auf gewisse Weise zeichnet der Film ein umfassendes Bild von dieser Realität. Obwohl doch seine ganze Geschichte auf einem Zufall beruht.

Wir haben den Militarismus in den USA als etwas Einzigartiges mit Ausschließlichkeitsanspruch betrachtet. Was er tatsächlich ist, und dann auch wieder nicht.

Wir haben unseren Roadtrip monatelang vorbereitet. Für unsere Reiseroute haben wir „Knotenpunkte“ der Zerstörung gewählt – Atomraketensilos, Waffenfabriken, Labors, Militärakademien und -stützpunkte. In dieser Phase hatte der Film noch ein sehr ein-stimmiges Konzept. Wir gehen immer so vor, dass wir scheinbar voneinander isolierte, in Wirklichkeit aber eng miteinander verknüpfte Elemente miteinander verbinden – beispielsweise Arbeit und Umweltkatastrophen oder Landwirtschaft und Kolonialismus. Diese Verbindungen erweisen sich nahezu immer als kraftvoller und grundlegender als erwartet. Doch irgendwie hatten wir in diesem Fall eine solche Art der Verbindung nicht hergestellt. Wir haben den Militarismus in den USA als etwas Einzigartiges mit Ausschließlichkeitsanspruch betrachtet. Was er tatsächlich ist, und dann auch wieder nicht. An den ersten Tagen unserer Reise fiel es mir schwer, die Kamera in die Hand zu nehmen. Warum weiß ich nicht. Möglicherweise hatte es mit diesem existenziellen Mangel zu tun. Ich wusste, dass etwas fehlte. Doch ich wusste nicht was. Und ich wollte erst dann die Kamera einschalten, wenn mir klar war, was fehlte und warum.

Erin:

Allerdings waren wir mit unseren Kindern, unserem Hund und unserem Wohnwagen, den wir Nelly genannt haben, schon recht weit gekommen. Sie liebten unsere Erkundungstouren. In Illinois beobachteten wir Glühwürmchen in Landschaften, die von ungewöhnlich starken Überschwemmungen Monate zuvor noch ganz schlammig waren. Bei unserem ersten Halt in Iowa wollten wir uns am Rande eines Maisfelds in der Nähe von Windrädern die Beine vertreten und stießen auf Hunderte von toten Schmetterlingen, die dort mit zerrissenen und zerfetzten Flügen über den Boden verteilt lagen. Wir fuhren weiter zu einem Campingplatz, der ebenfalls an einem Maisfeld lag. Dort konnten wir baden und unsere Hängematte zwischen zwei alte Bäumen spannen. Zu Beginn unseres Roadtrips – diesem Klassiker der Americana – wurde uns immer wieder die unausweichliche Katastrophe in Erinnerung gerufen.

Vor acht Jahren machten Travis und ich unsere Hochzeitsreise nach Japan. Nur wenige Monate nach dem Erdbeben und dem Tsunami und der darauffolgenden Atomkatastrophe folgten wir einer Einladung in eine Stadt im Norden des Landes. Als der Hochgeschwindigkeitszug, den wir in Tokio bestiegen hatten, auf unserer Reise in Fukushima hielt, trafen sich unsere Blicke und wir fragten uns, was wir tun sollten. Der Bahnhof liegt im Landesinneren, wir konnten also keine Spuren der Zerstörung ausmachen. Außerdem hat Strahlung keinen Geruch und hinterlässt somit auch keine sichtbaren Spuren wie das Flimmern von Gas oder Hitze in der Luft. Man kann sie nicht spüren wie eine Ölpest. Und in diesem Fall ist sie auch nicht auf eine Explosion zurückzuführen, wie die der Bomben, die die USA vor fast sieben Jahrzehnten auf Japan abgeworfen haben, deren Strahlung sich auch noch bis in die letzten Oberflächen gebrannt hat. Wie vermeidet man den Kontakt mit etwas so Schrecklichem und doch so Flüchtigem?

Travis:

Wir beschlossen daher, unsere ersten Aufnahmen an einem Raketensilo in Colorado zu machen, das unmittelbar an der Grenze zu Nebraska liegt und nach dem ehemaligen US-Senator Tim Wirth benannt ist.

In den achtziger Jahren brach ich die High School ab, um die politische Kampagne einer Organisation mit dem Namen Freeze PAC zu unterstützen. Zeitlich und inhaltlich fühlt es sich so an, als liege diese Arbeit Millionen von Jahren zurück. Unser wesentliches Ziel bestand darin, Druck auf politische Entscheidungsträger in den USA auszuüben und damit ein „Einfrieren“ der Produktion von Atomwaffen in den USA zu bewirken. Ein solches Einfrieren sollte der erste Schritt in Richtung einer möglichen Abrüstung sein. Und der Weg zu einem solchen Einfrieren sollte über die Arbeit innerhalb des Systems führen. Wir wollten die Demokratische Partei unterstützen und Druck auf sie ausüben, ihre Glaubenssätze als Vertreter*innen der ältesten Partei des bürgerlichen Lagers in der westlichen Welt zu verraten. Was selbstverständlich ein frommer Wunsch blieb. Und natürlich ein völliger Misserfolg war.

Auf gewisse Weise erschien mir der Gedanke, an einem Silo zu filmen, das nach der Symbolfigur dieser fehlgeschlagenen politischen Strategie benannt war, als Möglichkeit, meinen kreativen Impuls zu erneuern und das Projekt in Gang zu bringen. Wir überquerten also die Staatsgrenze und steuerten unseren Kia mit dem Wohnwagenanhänger in Richtung Silo.

Dieser Plan erwies sich jedoch als genauso erfolgversprechend wie unsere ehemalige politische Strategie. Buchstäblich in dem Moment, als wir die Grenze nach Colorado überquerten, machte unser Wagen plötzlich merkwürdige Geräusche. Kurz darauf gab der Motor vollständig den Geist auf. Später erfuhren wir, dass wir unglaubliches Glück gehabt hatten, weil es bei einem Motorschaden bei dieser speziellen Marke und diesem Modell nicht selten war, dass der Motor in Flammen aufging. So war es bereits Hunderte von Malen passiert. Doch in diesem Moment wussten wir nur, dass wir als Familie am 4. Juli an einem Straßenrand im östlichen Colorado festsaßen und überlegten, was zum Teufel wir nun tun sollten.

Schließlich gelang es uns, den Wagen in die nächstgelegene Stadt – Julesburg – abschleppen zu lassen, wo wir uns müde und ziemlich niedergeschlagen im einzigen Motel einmieteten und auf Neuigkeiten aus der Werkstatt warten wollten. Stattdessen begannen wir mit den Filmaufnahmen. Der Swimmingpool war wegen Reparaturarbeiten geschlossen, die ganze Stadt war wie ausgestorben, und wir hatten im wahrsten Sinne des Wortes nichts Besseres zu tun. Und diese Filmarbeiten sollten – aus fast schon mystisch anmutenden Gründen – das gesamte Projekt nachhaltig prägen.

Erin:

In dem Moment fand ich eine kleine Anhalterin, eine Zecke, die mir unter dem T-Shirt über die Haut kroch. Als wir auf den Abschleppwagen warteten, war ich mit den Kindern durch die Wiesen am Highway spaziert. Dort blühten gerade die Kaktusfeigen. Diese äußerst robuste und stachlige Pflanze trägt nur für kurze Zeit erstaunlich zarte Blüten. Ich wusste, dass die Wiesen auch von nicht einheimischen Pflanzen erobert werden. Seit meiner Zeit als Landschaftsarchitektin interessiere ich mich für Landnutzung, Revitalisierung und die Synchronizität von Pflanzen. Sie erzählen Geschichten von Invasion, Bewegung und Migration, von wundersamer Heilung und plötzlichem Tod. Die Aussichten glichen den alten Landschaftsmalereien, auf denen das Land als weit und grenzenlos, menschenleer und mit ausreichend Platz für die freie Land- und Besitznahme dargestellt wird. Propaganda, die Siedler*innen anlocken sollte und noch immer die Wände unserer Museen und Institutionen ziert.

Die Aussichten glichen den alten Landschaftsmalereien, auf denen das Land als weit und grenzenlos, menschenleer und mit ausreichend Platz für die freie Land- und Besitznahme dargestellt wird. Propaganda, die Siedler*innen anlocken sollte und noch immer die Wände unserer Museen und Institutionen ziert

Ich war gespannt, ob wir Anzeichen für Pflanzenstress in den gespenstischen Landschaften um die Silos finden würden. Aber auch, ob es Hinweise auf die großen Uranmengen geben würde, die unterirdisch lagern und ihre Strahlenverseuchung geruchlos und unsichtbar verbreiten.

Diese kleine Zecke erinnerte uns daran, dass auch nicht außerhalb der Geschichte der Invasion der Siedler*innen in diesem Land waren und sind, dass auch unsere Geschichte und unsere Herkunft zu dieser Erzählung gehören.

Einige Tage später erfuhren wir, dass unser Wagen einen neuen Motor benötigt und erst in mehreren Wochen fertig sein würde. Doch das ist eine vollkommen andere Geschichte.

Travis:

Und in dieser Situation verschlug es uns ausgerechnet nach Julesburg. Die Stadt ist trist und nahezu ausgestorben. Durch eine Grenzverlegung hat sie ihren ehemaligen Status als Grenzstadt eingebüßt. Heute ist die Region vor allem landwirtschaftlich geprägt. Wie viele kleine landwirtschaftliche Gemeinden in den ländlichen USA ist auch hier der Niedergang deutlich zu spüren. Das Interesse großer Agrarkonzerne hält sich in Grenzen, und der Zuckerrübenanbau hat seine beste Zeit hinter sich.

Allerdings überschneidet sich die Siedlungsgeschichte der Stadt auf überraschende Weise mit meinen eigenen Interessen und meiner Vergangenheit als Filmemacher.

Um das Jahr 2010 filmte ich an einem Ort namens Sand Creek, der zwar viel weiter südlich, aber ebenfalls am östlichen Rand Colorados liegt. Im Jahre 1864 ereignete sich hier eines der schrecklichsten Massaker in der Geschichte der Region, das Kavallerieverbände an Indigenen – Angehörigen der Cheyenne und der Arapaho – verübten. Der Vorfall ist an Zynismus kaum zu überbieten. Den Stammesführern war es vor allem daran gelegen, Konflikte mit den weißen Siedlern zu vermeiden. Sie baten daher um einen Ort, an dem sie friedlich ihr Lager aufschlagen und jagen könnten. Daraufhin wurde ihnen Sand Creek als geeigneter Ort genannt, unter der Bedingung, dass sie eine weiße Flagge und eine US-Flagge über ihrem Camp hissten, was sie auch taten. Doch die Angehörigen der Regimenter von Colorado, unter Führung des heute berüchtigten Anführers John Chivington, fanden im Anschluss an ein ausgedehntes Trinkgelage anhand dieser Flaggen ihren Weg in das Camp. Bei dem darauffolgenden Massaker kamen alle Menschen im Lager ums Leben. Die Zahl der Todesopfer lässt sich zwar nicht eindeutig beziffern, doch es waren mindestens Hundert und vor allem Frauen, Kinder und alte Männer, da eine große Jagdgruppe das Camp auf der Suche nach Nahrung zurückgelassen hatte.

Dieses Massaker ist ein prägendes Ereignis in der Geschichte des Bundesstaats. Einerseits wurden mit dem Massaker die Grundlagen und Voraussetzungen für die Gründung von Colorado 20 Jahre später geschaffen. Anderseits hat es auch eine eigenartige existenzielle Bedeutung. Colorado ist auch heute noch für Amokläufe mit Schusswaffen bekannt. Diese Verbindung lässt sich weder leicht erklären noch von der Hand zu weisen.

Doch was hat all dies mit Julesburg zu tun? Nach dem Massaker bildeten die Überlebenden der Cheyenne und Arapaho „militärische“ Einheiten und starteten einen Rachefeldzug – einen Kampf, den sie verlieren sollten. Und dieser „Krieg“ begann in Julesburg. Allerdings hatten die Cheyenne und Arapaho, wie im Film deutlich wird, eine völlig andere Vorstellung von Rache als die weißen Siedler.

Völlig zufällig hat uns die plötzliche Autopanne – an diesem Ort, zu dieser Zeit, auf unserem Weg zu einem Silo, das nach einem Senator benannt ist, für den ich gearbeitet habe, um einen Krieg zu verhindern, der sich bisher glücklicherweise nicht ereignet hat –, dabei geholfen, die grundlegenden Zusammenhänge nachzuzeichnen zwischen dem Kolonialismus der weißen Siedler*innen, der Vernichtung der indigenen Kultur, Gemeinschaft und Lebensräume in der westlichen Welt, dem Militarismus der USA und dem Atomkrieg. Die Zusammenhänge liegen auf der Hand. Und doch konnten wir sie aus irgendeinem Grund nicht sehen. Dafür sind unerwartete Ereignisse manchmal gut. Und genau diese Botschaft wollten wir mit unserem Film vermitteln.

Erobere das Land mit einer Waffe. Das Land wird zur Waffe. Richte die Waffe auf die Köpfe aller Menschen.

Erin und Travis Wilkerson

Übersetzung: Kathrin Hadeler 

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