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Zu Beginn des dritten Jahres einer globalen Pandemie – die uns so viel genommen und uns gleichzeitig keinen Raum gelassen hat, unseren Verlust angemessen zu betrauern – tritt die fortdauernde Entbehrlichkeit bestimmter Leben, bestimmter Körper, bestimmter Erwartungen an das Wohlergehen inzwischen so deutlich wie nie zuvor zutage. Die Tatsache, dass die Lebensfähigkeit der Industrie und des Kapitals mehr Dringlichkeit und Bedeutung haben als die Leben derer, die mit ihrem Körper und Geist die Funktion der Produktionsmittel gewährleisten, hat sich (unabhängig von der grausamen Realität der Produktionsbedingungen) nie zuvor auf so drastische Weise gezeigt.

Kino und Industrie

Das Kino bildet hier keine Ausnahme. Es gibt Menschen, denen bieten Filme auch weiterhin eine willkommene Möglichkeit des Rückzugs aus unserer Welt. Andere wiederum fühlen sich durch Filme auf schmerzliche Weise an die Grausamkeiten dieser Welt erinnert. Wir müssen uns für ein Kino einsetzen, das nicht um jeden Preis die Interessen privater und staatlicher Unternehmen vorantreibt, sondern unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft authentisch abbildet; und zwar nicht nur in den Geschichten auf der Leinwand, sondern auch in seinen materiellen Strukturen und Beziehungsmodi. Wir müssen uns selbst, unsere Mitarbeiter*innen, unsere Communities fragen: Wie könnte ein solches ethisches Filmschaffen – das nicht von uns verlangt, unser Leben und seine aktuellen Bedingungen zu verleugnen – heute aussehen?

Wir müssen uns selbst, unsere Mitarbeiter*innen, unsere Communities fragen: Wie könnte ein solches ethisches Filmschaffen – das nicht von uns verlangt, unser Leben und seine aktuellen Bedingungen zu verleugnen – heute aussehen?

In TRÊS TIGRES TRISTES (Three Tidy Tigers Tied a Tie Tighter) erkundet der brasilianische Filmemacher Gustavo Vinagre die diesbezüglichen Möglichkeiten und will eine Industrie ins Wanken bringen, die ihre Machenschaften nach wie vor unter Missachtung – und vielfach auch auf Kosten – der am stärksten Marginalisierten fortsetzt. In seinem jüngsten Film bietet Vinagre einen surrealen und doch tiefgründigen Einblick in einen Tag im Leben dreier junger queerer Menschen und anderer in ihrem gemeinsamen Orbit. Der Film ist ein Bekenntnis zu den emanzipatorischen Möglichkeiten fantastischer Zukunftsvisionen und fällt gleichzeitig ein ehrliches, wenn auch verblüffendes Urteil über unsere Gegenwart, das von einem starken Mitgefühl für all diejenigen geprägt ist, die diese Zeit durchleben.

Urbane Intimitäten

Studentin Isabella und Sexarbeiter*in Pedro (auch bekannt als Babyface) leben gemeinsam in einer kleinen Mietwohnung in São Paulo und bewohnen sie mit einer selbstverständlichen Intimität, die nicht nur von ihrem Zusammenleben, sondern auch von ihren Erfahrungen mit Marginalisierung herrührt. Während Isabella in der Küche für eine Prüfung lernt, in der Hoffnung, dass sie ihr zu einer nicht besonders aufregenden, aber doch stabilen beruflichen Laufbahn verhelfen wird, vernimmt sie plötzlich Stöhnen aus dem Schlafzimmer. Pedro vollführt dort lustvolle Bewegungen vor der Webcam. Die Wohnung wird außerdem von kasinoartigen Klängen erfüllt, die immer dann ertönen, wenn die Zuschauer*innen Pedro ein digitales Trinkgeld hinterlassen. Die Bewegungen und Stimmen von Isabella und Pedro sind von einem müde-routinierten Umgang mit den Anforderungen des Kapitalismus an ihr Leben geprägt.

Staatliche Heucheleien werden in der scheinbar harmlosen Stadtlandschaft aufgedeckt und machen deutlich, wer als entbehrlich betrachtet wird und keinen Anspruch auf den Luxus von Sicherheit, Komfort und Erinnerungsarbeit erheben kann, noch nicht einmal auf das Privileg eines Narrativs

Genauso ergeht es Pedros Neffen Jonata. In seiner Heimatstadt São Lourenço und dem umliegenden Bundestaat hat er bereits alle verfügbaren Möglichkeiten einer HIV-Behandlung erkundet und genutzt. Nun macht er sich auf den Weg nach São Paulo. Als die drei vor Jonatas Termin durch die Stadt spazieren, nehmen sie wahr und reflektieren darüber, wie die Welt um sie herum durch eine ungerechte Geschichtsschreibung und eine unmenschliche Verteilung der Ressourcen mit diskriminierender Hand geformt wurde. Staatliche Heucheleien werden in der scheinbar harmlosen Stadtlandschaft aufgedeckt, sie machen deutlich, wer als entbehrlich betrachtet wird und keinen Anspruch auf den Luxus von Sicherheit, Komfort und Erinnerung, erheben kann, noch nicht einmal das Privileg eines Narrativs.

Das Erkennen imaginierter Welten

Wie können wir uns in einer Welt, in der sich sogar Ruhepausen zu Geld machen lassen (Pedro selbst schläft vor laufender Webcam), von den Anforderungen des Kapitals befreien? TRÊS TIGRES TRISTES denkt nicht nur über das Ende der Welt in ihrer derzeitigen Form nach, sondern imaginiert auch neue und andere Welten. Der Film lehnt eine Welt ab, die das Leben ihrer Bewohner*innen Zeit- und Geschichtsregimen unterwirft, welche durch einen rassistischen Kapitalismus bestimmt werden. Um unsere derzeitige bedrückende Realität zu durchbrechen, postuliert er stattdessen ein radikales Gedenken an all diejenigen, die bequemerweise vergessen werden. Die Wahrheit ist hier gemeinschaftlich, verkörpert und in einigen Fällen sogar orgiastisch. Vinagre fragt uns: Wie können wir Lust, körperliche Präsenz, nicht-transaktionale Zuwendung oder Leidenschaft als emanzipatorischen Akt einsetzen? Wie können wir die Vereinnahmung unserer Körper und Seelen für kapitalistische Zwecke durchbrechen und uns auf diese Weise gegen die staatlich verordnete psychische Verwirrung zur Wehr setzen, mit der die Wahrheit unserer Existenz verleugnet und verschleiert werden soll?

Vinagre fragt uns: Wie können wir Lust, körperliche Präsenz, nicht-transaktionale Zuwendung oder Leidenschaft als emanzipatorischen Akt einsetzen?

Mit den Mitteln des magischen Realismus und dem spielerischen Einsatz bizarrer Videospiele und digitaler Ästhetiken lotet der Film die Grenzen der Realität in alle Richtungen aus. Dies führt zu einer Vielzahl surrealistischer Brüche in der Narration und zu einem völligen Zusammenbruch der erotischen Hierarchie. Was einst nur flüchtig dargestellt wurde, wird zu einer vollständigen Erneuerung der Welten. Der „Crapitalism“, wie Vinagre es nennt, macht Platz für eine gemeinschaftliche, generationsübergreifende und vor allem ständig wechselnde Daseinsform. In der Tat ist es diese Hingabe an das Fluide, das Phantasmagorische – immer im Vertrauen auf das Subjektive –, die hinter der radikalen Wandelbarkeit des Films steckt.

TRÊS TIGRES TRISTES gibt uns die Umkehrung des Glaubenssatzes an die Hand: „Eine neue Welt ist unmöglich, und wir befinden uns auf dem Weg dorthin.“ Er setzt also nicht auf leeren Nihilismus, sondern will stattdessen unsere gemeinsame Fähigkeit zur Begeisterung und zum Glücksempfinden aktivieren und stärken. Das erinnert uns daran, dass es gerade unsere Fähigkeit andere Welten zu imaginieren, ist, auf denen queere Zukünfte beruhen müssen.

Sarah-Tai Black ist Kritikerin, Redakteurin und Kuratorin aus Toronto/Treaty 13 Territory.

Übersetzung: Kathrin Hadeler

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