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Einmal wollte meine Mutter von mir wissen, warum ich unsere Skype-Gespräche aufzeichne. Das war 2012. Damals war ich erst seit wenigen Monaten in Deutschland und hatte mit meiner Familie schon oft geskypt. Ich sagte meiner Mutter, für mich seien die Aufzeichnungen eine Art Tagebuch. Ich sei zu faul, den Inhalt aufzuschreiben – und selbst wenn ich alles notieren würde, könnte ich die Essenz dieser vielen einzelnen Momente nie und nimmer so ausführlich, nuanciert und wirklichkeitsgetreu festhalten.

Wie hätte ich jenen Augenblick beschreiben können, als ich meine Mutter heimlich beim Pulloverstricken beobachtete, während sie vor der Webcam auf mich wartete und ein Lied vor sich hinsummte? Wie sollte ich schildern, was in mir vorging, als mein Vater mich fragte, ob ich ihn gernhabe, und ich seine Frage nicht ernsthaft beantworten konnte? „Die Kamera lügt nicht“, sagte Abbas Kiarostami oft in seinen Workshops. „Der Kamera kann man vertrauen.“ Deshalb habe ich diese Skype-Gespräche aufgezeichnet.

Meine Mutter fragte mich, ob ich vorhätte, das Material zu einem Film zu verarbeiten. „Auf keinen Fall“, war meine Antwort. „So privates Material würde ich nie zeigen.“ Sie glaubte mir nicht – und sollte Recht behalten. Wie konnte sie damals schon wissen, was zehn Jahre später passieren würde?

Jetzt, wo der Film fertig ist, bin ich mir nicht so sicher, ob ich wirklich „der Kamera vertrauen“ darf. Im Schneideraum hätte ich mir jeden Tag eine neue, andere Familie erschaffen können. Manchmal war mein Vater der liebenswürdigste Mensch, den man sich vorstellen kann, und in anderen Momenten der Teufel in Person. Manchmal war ich ganz der zum Scherzen aufgelegte Sohn und bespaßte meine Eltern ohne Ende; in anderen Momenten war ich komplett abwesend, als hätten die beiden gar keinen Sohn. Und meine Mutter? Sie war absolut konstant, blieb dieselbe Person, und das war gut so: liebevoll, höchst teilnahmsvoll, smart und vor allem ungestüm.

Mich interessierten vor allem die kleinen Geschichten, die sich entwickeln, wenn Menschen einander in Liebe verbunden sind.

Wie ist es möglich, dass einerseits die Kamera nicht lügt und ich andererseits im Schneideraum jeden Tag eine neue Version meiner Familie kreieren kann? Das ist und bleibt für mich ein Mysterium. Ich erinnere mich nicht mehr, welche Momente in dem Film wirklich passiert sind und welche während des Schnitts „inszeniert“ wurden. Ich weiß allerdings auch nicht, ob die „inszenierten“ Momente nicht vielleicht sogar ein zutreffenderes Bild unserer realen Familie vermitteln als die „echten“ Momente.

Als ich den Film meinen Eltern vorführte und sie um ihre Freigabe bat, gab es nur eine Szene, über die mein Vater sich aufregte und die er im Gegensatz zu allen anderen „echten“ Szenen für inszeniert hielt. Gerade diese Szene war jedoch weitestgehend „echt“.

Ich hatte nie vor, einen wahrheitsgetreuen Dokumentarfilm über die Familie Fesharaki zu machen. Mich interessierten vor allem die kleinen Geschichten, die sich entwickeln, wenn Menschen einander in Liebe verbunden sind. Für mich waren die von der unbestechlichen Webcam aufgezeichneten Momente ein unglaublich kostbares Gut, dem ich am Ende vertrauen konnte – denn alles, was sich vor der Webcam abspielte, ruhte auf einem Fundament aus Liebe und Sehnsucht.

Und: Vielleicht können die Zuschauenden sich durch diesen Film ein Bild von meiner Familie machen und nachvollziehen, wie die Revolution, die für die Generation meiner Eltern eine Herzensangelegenheit war, ihnen gestohlen wurde und wie die anschließende brutale Unterdrückung ihr Leben und auch das Leben ihrer Kinder zerstört hat. Trotzdem gibt es eines, was uns alle fest zusammenschweißt: die Hoffnung.

Faraz Fesharaki

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