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Das Hinterzimmer ist nicht einfach ein Hinterzimmer. Es ist ein Dschungel aus Farben, mit einer mit Aufklebern tapezierten Bar und einem Gemälde, dessen Exotismus das exotische Interieur noch einmal verdoppelt; später wird es zu einem Partyraum, voller Girlanden, Ballons und Luftschlangen, in dem sich eine schrill herausgeputzte Gesellschaft die Ehre geben wird. Abgesehen davon ist das Hinterzimmer das Vorzimmer zum Schlafzimmer, das seinerseits nicht einfach ein Schlafzimmer ist, sondern eine Hölle, in der sich der Teufel im rosa Bademantel auf einem mit Leopardenhaut überzogenen Bett räkelt. Die Hölle ist voller Farben und Körper.

Der Teufel, der von den meisten nur als „Königin“ bezeichnet wird, ist Schwarz, queer und das Zentrum dieses einzigartigen Films von Antonio Carlos da Fontoura, A RAINHA DIABA, von 1974. Die teuflische Königin herrscht über einen Drogenring und liebt Rasiermesser, mit denen sie gerne an den Kehlen ihrer ebenfalls queeren Handlanger*innen herumfuchtelt oder gleich deren hübsche Gesichter zurechtschneidet. Gespielt wird die Dame von Milton Gonçalves, der im letzten Jahr gestorben ist, mit einer zwischen Verrücktheit und Verletzlichkeit changierenden Energie. Allein schon mit seiner Hauptfigur beweist der Film, dass die Zukunft des Kinos, gerade mit dem fortschreitenden Alter der Kunstform, zunehmend in den restaurierten Schätzen seiner Vergangenheit liegt. Vor allem, wenn das filmkulturelle Erbe wie hier ein sub- und gegenkulturelles Archiv von Randgestalten ist, die ihre soziale Unterlegenheit in ein schrilles ästhetisches Extrem umkehren.

Die Figur der diabolischen „Königin“ ist inspiriert von der historischen Figur der Madame Satã (Satan), so der Künstler*innenname von João Francisco dos Santos (1900–1976), einer Drag Performer*in und Capoeira-Kampfsportler*in aus Rio de Janeiro. Der Name geht selbst auf einen Film zurück, auf MADAME SATAN von Cécil B. DeMille aus dem Jahr 1930. So steht dos Santos‘ Madame Satã für eine Kunstfigur zwischen Geschichte und Legende, die zum Ausdruck des Widerstandes jener wurde, für die in der weißen brasilianischen Dominanzgesellschaft kein Platz war: für queere Personen, für die Schwarzen Nachkommen von (Ex)Sklaven, für Junkies, Zuhälter und Prostituierte, für Gangster und Kampfsportler*innen. Mit dieser Liste ist auch das Personal von A RAINHA DIABA beschrieben, das in den Favelas von Rio de Janeiro lebt.

Anders als Karim Aïnouz, der 2012 mit MADAME SATÃ den „offiziellen“ Film über die Geschichte von dos Santos gedreht hat, synthetisiert da Fontoura 1974 noch zu Lebzeiten der großen Dame Elemente ihrer Persönlichkeit mit anderen Elementen zu einem wilden Gemisch. A RAINHA DIABA ist ein Queerploitation-Film mit Versatzstücken aus B-Movie-Gangsterfilm sowie Sexploitation. Es gibt Anteile des Trash-Queer-Cinema von John Waters, es gibt Kitsch und Camp, und, mit Bezug auf die Farben, Aspekte des italienischen Giallo. Vor allem gibt es Aspekte des Tropicalismo, jener brasilianischen Bewegung in Kunst und Musik, die während der Militärdiktatur aufblühte und im Film nicht nur in der Mischung aus Armut und Farben präsent ist – einer Persiflage des paradiesischen Klischees –, sondern auch in der fast allgegenwärtigen Musik.

Die Farbe wird zum Leitmedium einer Queer-Werdung des Gangster-Genres.

Die Logos von Marken wie Esso und Pepsi führen ein Eigenleben wie in der Pop-Art, das Blau eines Tankwagens oder das Violett eines Autos stechen ins Auge. Immer wieder gibt es diese l’art-pour-l’art-Momente, diesen Genuss von Sinnlosigkeit jenseits von Plot und Narration, das Aufflammen purer Schaulust, die sich an den alltäglichsten, kommerziellsten Gegenständen entzündet – meistens eben an Automobilen, die sich ebenso bewegen wie die Bilder auf der Leinwand.

Verschmelzen im von der echten Madame Satã so glänzend beherrschten Capoeira, Kampf und Tanz miteinander, so verschmelzen analog dazu in A RAINHA DIABA die Gewalt der Gangster mit einem ästhetischen Bildregime, das seine soziale und politische Funktion nie verleugnet. Die Farbe wird zum Leitmedium einer Queer-Werdung des Gangster-Genres. Gerade im ersten Teil des Films wird die genrespezifische Erzählung von den Farben, dem Lachen, den andeutungsvollen Blicken übermalt und ins Absurde überführt. Es geht darum, einem jungen Gangster eine Falle zu stellen, damit dieser anstelle eines Protegés der Königin in den Knast geht. Die Erzählung reduziert sich damit auf die schiere Ersetzung der Gangster untereinander, eine Rochade der Körper auf einem blutigen – und sinnlosen, von keinerlei Erfolg gekrönten – Weg an die Spitze der Macht des Rauschgiftrings.

Trotz ihrer queeren Übermalung und der Erfolglosigkeit, auf die sie zusteuert, wird die Narration nie neutralisiert, versackt sie nie in einer Aneinanderreihung von reinen Schaulustmomenten, wie in anderen Exploitation-Filmen. Aus der Gefolgschaft der Königin ist die Homophobie keineswegs verschwunden, regt sich Widerstand: Es sind die Hetero-Gangster im Team der Königin, die die „Schwuchtel“ verjagen und beseitigen wollen. Queerploitation und Gangster-B-Movie bleiben zwei politische, das homophobe Klima der Zeit reflektierende Kräfte, die nicht aufhören, gegeneinander zu wirken.

Eine dritte Variante, in der die Queerness und Gewalt hier zusammenkommen oder kollidieren, ist, neben der Queerifizierung des Genres und dem Widerstand dagegen, die Ekstase. Gerade am Ende wird in einer irren Folterszene die Trennung zwischen Gewalt und Lust in einem wahnsinnigen Schreien überschritten, bevor der Film endet, wo er begonnen hat: im Vorzimmer zur Hölle, wo die Körper – alle Körper – auf einem großen Haufen entsorgt werden. Als seien sie von Anfang an nur Agent*innen eines rauschhaften Karnevals der Farben gewesen, der nun vorüber ist. Als triumphierte am Ende aller Machtkämpfe allein der Rausch des Todes, dem selbst der Teufel zum Opfer fällt.

Philipp Stadelmaier hat an der Goethe Universität Frankfurt und der Université Paris 8 in Filmwissenschaft promoviert, ist Filmkritiker („Süddeutsche Zeitung“, „Filmbulletin“, „Sissymag“, „Zeit Online“) und Schriftsteller.

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