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Voraus- und zurückblicken

Der unergründliche Blick eines jungen Mädchens, eine Wellenwand, ein Ausritt an die Küste: DEAREST FIONA, der dritte Langfilm der Künstlerin Fiona Tan, beginnt mit diesen Bildern – Erzählungsfragmenten an der prekären Grenze zwischen Land und Meer. Ihre Unmittelbarkeit täuscht über die wohl kalkulierte Sorgfalt hinweg, mit der diese Bilder im weiteren Verlauf der folgenden fast hundert Minuten zum Einsatz kommen.

Der Film verfolgt ein scheinbar vertrautes Konzept: Er setzt sich einerseits zusammen aus Archivmaterial – Aufnahmen, die eine Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre umfassen und aus den Beständen des EYE Filmmuseums in Amsterdam stammen –, andererseits aus Tans Familiengeschichte. Diese wird mit Hilfe von im Off vorgelesenen Briefen erzählt, die ihr ihr Vater, Soen Houw Tan, zwischen August 1988 und September 1990 aus Australien in die Niederlande geschickt hatte. Das Ergebnis ist nicht nur eine kraftvoll persönliche Auseinandersetzung mit ihrer Ausbildung zur Künstlerin im Ausland, sondern auch die Geschichte eines Generationenwechsels, und zwar eine, die nicht nur auf die Vergangenheit schaut, sondern auch in die Zukunft blickt, eine Zukunft, die von steigenden Meeresspiegeln geprägt sein wird und gleichzeitig von der Notwendigkeit eines koordinierten Umgangs mit Wasserknappheit.

Neben den Briefen reichert ein minimalistischer Soundtrack die Tonspur der ansonsten stummen Bilder an. Das erinnert teilweise an Peter Jacksons THEY SHALL NOT GROW OLD (2018). Doch steht DEAREST FIONA einem anderen Film noch näher, Bill Morrisons DAWSON CITY: FROZEN TIME (2016), der sich ebenso stark mit der Frage beschäftigt, wie Film soziale Erfahrungen des frühen 20. Jahrhunderts gestaltet und verbreitet hat – mit welcher Geschwindigkeit, in welchem Ausmaß! – und wie das Material aus dieser Ära, das überdauert hat, noch hundert Jahre später Geschichte zu vermitteln vermag.

Überschriebene Vergangenheit

So, wie Tan die Briefform verwendet, zieht sie eine zusätzliche Vermittlungsebene ein, die die Fähigkeit herausfordert, die mehrschichtigen Erzählungen von DEAREST FIONA zu interpretieren. Denn schnell wird klar, dass die Bilder den Inhalt der Briefe nicht direkt illustrieren, selbst wenn sie manchmal deren Orte, Themen oder Motive aufgreifen. Stattdessen werden die Zuschauer*innen mit der zunächst verwirrenden, bald jedoch faszinierenden Aufgabe konfrontiert, eine bestimmte Vergangenheit anzuschauen (die gefilmte) und sich gleichzeitig eine andere vorzustellen (die geschriebene bzw. gesprochene). Diese Erfahrung lässt an Hollis Framptons Kurzfilm (NOSTALGIA) aus dem Jahr 1971 denken. Darin werden alte Fotografien auf einer Kochplatte langsam verbrannt, eine nach der anderen, während eine Off-Stimme den Inhalt des jeweils nachfolgenden, erst noch zu zeigenden Bildes beschreibt.

Durch die Geschichten, die er über Geburten, das Altwerden, über Leben und Sterben erzählt, unterlegt der Film seiner eindeutig sichtbaren Geschichte der industriellen Entwicklung eine Geschichte vom Wechsel der Generationen.

Um der subtilen Zeit-Politik bei dieser Verschiebung zwischen Ton und Bild auf die Schliche zu kommen, ist gedankliches Manövrieren erforderlich. Dieser Film basiert auf Archivbildern, die grob den Übergang vom (Kunst-)Handwerk zur modernen Industrie und Infrastruktur dokumentieren. Wir sehen, wie Handkarren Eisenbahnwaggons weichen, wie Segelboote zu Dampfschiffen werden und Windmühlen zu Kohlekraftwerken. Der Wandel vollzieht sich mal langsam, dann wieder ganz plötzlich, etwa in einer Sequenz, die langsam das Panorama einer Werft enthüllt und mit dramatischen Aufnahmen eines gerade fertiggestellten Schiffes endet, welches zum ersten Mal zu Wasser gelassen wird.

All dies wird mit Hilfe von Film festgehalten, jener Technologie, deren einzigartige und entscheidende Rolle in diesem Prozess sie zu dem machte, was Lewis Mumford zu seiner Zeit als „spezifische Maschinenkunst“ bezeichnet hat. Ein besonderes Verdienst von DEAREST FIONA, neben etlichen anderen, besteht darin zu veranschaulichen, dass diese Maschinenkunst von dauerhaftem Wert ist, als Motor für Historizität.

In der Werftsequenz sind Ton und Bild am deutlichsten aufeinander bezogen. Während wir die Holzskelette zukünftiger Schiffe und die um sie herum anfallenden Dockarbeiten sehen, rekapituliert ein Brief von Tans Vater kurzerhand die Geschichte des Kanalbaus in den Niederlanden und dessen enge Verbindung zum Gewürzhandel mit Indonesien. Bis zu diesem Punkt war der niederländische Kolonialismus in den Filmbildern bestenfalls latent anwesend, doch hier steht er jetzt im Rampenlicht. Später im selben Brief bietet Tans Vater eine äußerst fruchtbare Metapher für den methodischen Ansatz ihres Films an. Er berichtet, dass er bei einem Optiker war und seitdem eine Zweistärkenbrille trägt. „Die Umstellung von Weit- auf Fernsicht ist sehr abrupt“, schreibt er und beschreibt damit auch sehr treffend, wie der Film Vergangenheit und Gegenwart ineinanderschiebt. „Ich kann herumspielen“, fährt er fort, „indem ich auf den Übergang zwischen den beiden Linsen fokussiere“. Und genau an diesem Übergang von einer „Linse“ zur anderen operiert dieser Film – die eine Linse ist die buchstäbliche, die mit ihren Filmbildern auf die sichtbare niederländische Vergangenheit blickt; die andere Linse ist die symbolische, nur hörbare, die eine meist australische, aber durchaus auch international gültige politische Gegenwart evoziert.

Austausch zwischen den Generationen

Vater Tan – ein studierter Geologe, der seine indonesische Heimat verlassen hat, als Fiona noch ein Kind war, und der, wie wir aus den Briefen erfahren, für die australische Regierung gearbeitet hat – ist ein hochgebildeter Chronist des Zeitgeschehens. Doch ebenso viel ziehen wir aus seinen Beschreibungen des banalen Alltags. Sie entfalten im Dialog mit der gefilmten Vergangenheit etwas leise Tiefgründiges. Durch die Geschichten, die er über Geburten, das Altwerden, über Leben und Sterben erzählt, unterlegt der Film seiner eindeutig sichtbaren Geschichte der industriellen Entwicklung eine Geschichte vom Wechsel der Generationen. Dieser „bifokale“ Effekt, dieser „Zweistärkenblick“, verwebt nicht nur Vergangenheit und Gegenwart miteinander, sondern auch das Private und das Politische, das Lokale und das Globale. Die neuen Generationen – verkörpert durch die „liebste Fiona“ und ihren kleinen Neffen, dessen unablässige Fragen in den Briefen immer wieder auftauchen – verlangen den Älteren Rechenschaft ab, nicht nur darüber, was ihnen hinterlassen wurde, sondern auch warum. Die ältere Generation, vertreten durch Tans Vater, bittet ihrerseits die neue darum, sie in ihrem Denken und Planen zu berücksichtigen – eine Bitte, mit der der Vater den letzten Brief des Films abschließt.

Es fällt schwer, in diesem Austausch zwischen den Generationen keine Parabel zum Klimawandel zu sehen. Der Film beginnt und endet mit Wasser, er geht von dem Mädchen, das durch Tans Montage auf eine Wand aus Wellen hinunterzustarren scheint, bis zum Bau eines Uferwalls, der Stein für Stein errichtet werden muss. Dazwischen beschreiben die Briefe von Tans Vater Hitzewellen, Dürreperioden, Überschwemmungen und Ölkatastrophen. „Murphys Gesetz wird überstrapaziert“, beklagt er an einer Stelle. Die Bilder wiederum erzählen von einem bereits länger im Gange befindlichen Kampf, Wasser bei Ebbe und Flut zu steuern, wobei offenbar wird, dass die berühmte Fähigkeit der Niederländer, das Meer zu kontrollieren, nicht nur auf genialen Ingenieursleistungen beruht, sondern auch auf einer Sisyphusarbeit unter Anwendung roher Gewalt – händisches Terraforming. Die Verbindung zwischen der gefilmten Vergangenheit und der in den Briefen beschriebenen Gegenwart kündigt in DEAREST FIONA ein Zeitalter an, in dem Wetter als Klima verstanden werden muss und lokale Praktiken des Wassermanagements den globalen Kampf gegen einen Anstieg der Meere vorwegnehmen, vergleichbar mit den vom Film nachgezeichneten Umstellungen vorindustrieller Technologien auf ihre modernen Entsprechungen.

Brian Jacobson ist Professor für Visual Culture am California Institute of Technology.

Übersetzung: Stefan Pethke

 

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