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Ich würde meine Augen unter der Augenbinde schließen, in einer schwarzen Kutsche durch neblige Wälder an reißenden Flüssen entlang fahren und auf einer Holzbrücke über dem Fluss anhalten. Dann würde ich mit den Flügeln schlagen und mich in den Himmel hinaufschwingen. Dort würde ich Manijeh sehen, im gleichen weißen Kleid wie auf dem gerahmten Foto an der Wand, mit einer Krone aus winzigen rosa Blumen, die geschmackvoll zusammengebunden wären. Ich würde ihr meine Hände entgegenstrecken, sie würde ihr Gesicht zu mir drehen. Ich würde rufen: Ich bin‘s, deine Cousine, deine Freundin! Sie würde mich mit ihren großen schwarzen Augen ansehen und den Kopf schütteln. Der Wind würde ihr schwarzes Haar zerzausen, während sie sich anmutig entfernen und in den Wolken verschwinden würde.

Ich schweifte hoffnungslos in jenem wolkigen und nebligen Wetter umher, als ich Shohre sah. Shohreh Shanetshi, mit diesem immerwährenden Lächeln auf ihren Lippen und dem hübschen dunklen Teint. Sie sah mich an und ging weg. Zohreh Hashemi, Alireza Tashid, Niloufar, sie waren alle dort versammelt. Doch je mehr ich ihnen meine Arme entgegenstreckte, umso mehr rückten sie in die Ferne. Ich wollte mich aus dem Korsett meines Körpers befreien und zu ihnen gehen. Aber es regnete und die Wolken lösten sich in der unendlichen Weite des Himmels auf. Ich blieb allein im Regen zurück.

Viele Tage waren vergangen und ich war ruhiger geworden, hatte mich mehr in mich zurückgezogen. Schon seit einer ganzen Weile hatte ich unter der Mauer der Gruft hindurch meiner befreundeten Nachbarin kein Zeichen der Zuneigung mehr gesandt, und schon seit einer Weile war ich meiner selbst überdrüssig geworden. Ich hatte mich dem Lauf der Zeit überlassen. Die Tage verbrachte ich damit, die Augen unter der Augenbinde zu schließen und mich auf die alte Holzbrücke zu begeben. Die Flügel auszubreiten, in den Himmel aufzusteigen und zwischen den Wolken umherzustreifen. Mit den Toten und den zum Tode Verurteilten Versteck und Fangen zu spielen und neben meinem Großvater zu sitzen, während er Gedichte aus dem Masnavi von Rumi rezitierte. Die Stimme aus dem Radio quälte mich nicht mehr. Es fühlte sich so an wie eine Symphonie im Hintergrund meiner Träume. So vernahmen meine Ohren sie mittlerweile.

Die Zeit verging. Das Gefühl, von jeglicher Zugehörigkeit befreit zu sein, war für mich so bezaubernd und anziehend, dass ich es nicht mehr loslassen wollte.

Ich glaubte immer noch nicht, eine große Sünde begangen zu haben. Was hatte ich denn schon getan, was eine Sünde gewesen wäre? Warum bezeichnete man diejenigen im Gefängnis, die unter Folter und Druck klein beigegeben hatten und kollaborierten, als Tawab, Büßer, also Leute, die Buße tun? Ich hasste dieses Wort, es enthielt eine Menge bitterer Erinnerungen und gemahnte vor allem an das Leid und den Druck, den sie auf uns ausübten. Die Stimme vom Haji war zu hören. Er interviewte jemanden, der glaubte, dass es eine große Sünde sei, sich gegen die Islamische Republik zu stellen.

Traurig, hilflos und müde von den sinnlosen Kämpfen mit mir selbst, hatte ich mich in den Gassen der Einsamkeit verloren, in der Stille und dem inneren Stillstand, in den endlosen Wellen des Radios, in den Straßen, die ins Nichts führten. Ich war wie ein Treibholz im tobenden Meer der Irrfahrt. Ich wusste nicht, wohin ich ging. Ich war verloren.

Ich suchte Zuflucht bei meinem Gott. Ich schloss die Augen und fuhr mit meiner Kutsche zum Treffpunkt, zu jener Brücke.

Ich war immer noch unrein. Es gab noch viel zu tun, bevor ich das Stadium der Reinheit erreichte. Es war, als gäbe es ein Geheimnis zwischen mir und etwas, das in mir brodelte, was ich Gott nannte. Ich wollte nicht, dass irgendjemand von unserem Geheimnis erfuhr. Ich betete stumm. Zuerst versuchte ich, die Begriffe des rituellen Gebets mit persischen Wörtern auszudrücken, meine Dankbarkeit auszudrücken, dass ich lebe.

Es gibt gar keinen Grund dankbar zu sein, du lebst ja nicht mehr.

In meinem Inneren setzten sich Streit und Zwist fort.

Aber Gott kam und breitete sich in meinem unruhigen Herz aus. Er brachte Wärme und Licht mit sich, sogar bis unter die Augenbinde in die tiefsten Schichten der Ewigkeit. Der Gedanke an ihn beruhigte mich. Ihn zu erwähnen, wischte die Schmerzen meiner Einsamkeit weg. Ich hatte das Gefühl, dass da jemand bei mir war, dem ich meinen, durch all die Schmerzen wuchtig gewordenen Rucksack aufsetzen konnte. Jemand, neben den ich mich setzen konnte und der mich streichelte, der mir meine Dunkelheit selbstlos nahm. Der meine Finsternis selbstlos auslöschte. Ich mochte ihn. Ich hatte ihn in einem unerbittlichen Kampf und einem schweren Herzschmerz gefunden. Ich legte meinen Kopf auf seine Schultern, frei von Angst und Sorgen.

Er wischte meine Tränen weg und streichelte mein Haar. Er flüsterte mir das Versprechen einer besseren Welt ins Ohr. Ich brauchte ihn. Um zu leben, brauchte ich ihn.

Ich stand auf, meine Augen waren unter der Augenbinde geschlossen. Ich drehte den Kopf zum Himmel, legte meine Hände zum rituellen Gebet an die Ohren und betete. Ein Licht schien mich zu umhüllen. Inmitten dieses Trümmerhaufens, in der Dunkelheit unter der Augenbinde, war es, als würde ich vom Druck dieses Lichts erblinden. Ich hörte die Stimmen von Masoumeh und Zohreh erst, als diese sich in einen panischen Schrei verwandelt hatten:

„Setz dich hin. Wieso stehst du? Willst du wieder geheime Zeichen schicken, du Miststück?“

Es war mir egal. Sie dachten, ich wäre aufgestanden, um zu randalieren. Sie stürzten auf mich zu. Als ich mich vorbeugte, beruhigten sie sich. Als ich mich niederkniete, waren sie wahrscheinlich verblüfft.

Als ich mein Gebet beendet hatte, kniete ich nieder, legte meinen Kopf auf den Boden und beruhigte mich in dieser Haltung. Masoumeh rief mich zu sich und brachte mich ins Badezimmer. Sie fragte leise:

„Hast du die rituelle Waschung und Reinigung ausgeführt?“

Hatte ich es gemacht? Hatte ich es nicht gemacht? Hatte ich die Reinigung ausgeführt? Hatte ich sie nicht ausgeführt? Ich sah sie verwundert an. Ich antwortete ihr nicht. Ich schwieg und kehrte zu meinem Grab zurück. Jetzt war dieses dunkle und kalte Grab der einzig sichere Zufluchtsort in meinem Leben.

Es dauerte keine Stunde und der Haji kam. Er führte mich nach draußen und sagte, ich solle meine Augenbinde abnehmen. Er freute sich, der Glanz der Freude leuchtete in seinen blauen Augen. Er sagte:

„Gott sei Dank, hast du dich gebessert. Ich wusste, dass du dich ändern würdest. Dein Wesen war schlecht, aber du hattest eine gute Basis.“

Er sprach tausend Stunden lang und ich hörte nichts. Als wäre ich nicht in dieser Welt. Ich wollte nicht, dass irgendetwas anderes in die Abgeschiedenheit meiner hellen Welt eindrang. Ich hörte nur wie er sagte:

„Ich schicke dich in den Trakt 3.“

Ich wollte nicht aus meinem Grab herauskommen. Ich sagte:

„Nein, ich ziehe es vor, hier zu bleiben.“

Verwundert sagte er:

„Wie es für dich angenehm ist, aber du kannst dich hinlegen oder schlafen.“

Es war mir nicht mehr wichtig. Solange ich hier bin, werde ich weder schlafen noch mich hinlegen. Ich war ja nicht in tausend Stücke gerissen worden, um zu schlafen oder mich hinlegen zu können. Was unterschied mich von den Anderen? Außer dass etwas in mir mich zur Weite Gottes geführt hatte.

Ich sang mit Gott im Herzen, ich wünschte, wie die Sufis im Kloster die Zeremonie des Sama – den Tanz der Derwische – auszuüben. Nüchtern drehte ich mich und sang den Namen Alis. Im Angedenken an seine Unterdrückung sang ich im Gleichklang mit den Derwischen. Der Wunsch, frei zu sein, befreit zu sein von der Welt und allem, was sich darin befindet, loderte und brannte in mir.

Ich dachte nur daran, wie gut es wäre zu sterben, hingerichtet zu werden, von einem Erschießungskommando getötet zu werden, wieviel einfacher alles wäre. Ob mich jemand verstehen würde? Nein ... nein, ich dachte an nichts anderes mehr außer an Gottes Wohlgefallen. Ich glaubte an ihn.

Ich bat um den Koran und sie brachten ihn mir. Ich las die Übersetzung der Sure „Tobe“ – „Buße“, die nicht mit „Im Namen Gottes“ beginnt und meine Tränen fielen auf die Worte: „Buße … Buße … Buße.“

Homa Kalhori ist ehemalige Journalistin und Autorin. Sie tritt in Mehran Tamadons JAII KEH KHODA NIST auf.

Dieser Ausschnitt ist aus „A Coffin for the Living“ (تابوت زندگان), veröffentlicht von Independent Publishers, New York, 2020.

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