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Luis Alejandro Yeros LLAMADAS DESDE MOSCÚ (Calls from Moscow) erzählt eine Geschichte von Resilienz, einfühlsamer Begegnung und komplexen Vorstellungen von Heimat in einem Klima umfassender politischer Angst. Der Film zeigt vier kubanische Migranten, die in der russischen Hauptstadt Moskau leben – vier Neuankömmlinge, allesamt queer, alle ohne Aufenthaltserlaubnis. Sie schlagen sich mit kleinen Jobs auf dem Bau durch oder arbeiten im Online-Verkauf. In verschiedenen Szenen, samt und sonders in einer gemeinsamen, spärlich eingerichteten Wohnung gedreht, werden sie in all ihrer Verletzlichkeit sichtbar: Wir begegnen dem stillen Enthusiasten, der besessen ist von Schönheitswettbewerben und Selbsthilfethemen, dem unternehmerischen TikTok-Influencer, einem möglichen Rückkehrer, der das Leben auf der Insel vermisst, und schließlich jemandem, dessen Anrufe nie beantwortet werden. Der Film erzählt eine Geschichte über Migration und Mobilität, vermittelt aber zugleich ein Gefühl von Starre und Aufschub, zeigt er seine Protagonisten doch stets allein in diesem häuslichen Raum – eine vormöblierte Wohnung auf Zeit, in der kein Gefühl der Zugehörigkeit aufkommen kann. Temperaturen unter dem Gefrierpunkt und die strikten Corona-Auflagen verschlimmern die Situation noch, zudem befinden wir uns in jenen schwierigen Monaten vor der russischen Invasion der Ukraine.

Auch wenn LLAMADAS DESDE MOSCÚ vor allem auf das spärliche Innere der Wohnung beschränkt ist – nur sporadisch unterbrochen von Aufnahmen einer wie eingefroren wirkenden Stadt –, so legt er doch auch Zeugnis von der komplexen politischen Situation in Kuba ebenso wie in Russland ab. In gemeinsamen Versuch, die dramatische Erfahrung der Emigration nachzuerzählen, etabliert der Film Parallelen zwischen den Repressionen durch die russische und die kubanische Regierung. So erzählen seine Figuren beispielsweise, wie sie von einem Land ohne Demokratie in das nächste gezogen sind.

Den Hintergrund für den Film liefert Kubas aktuelle Wirtschaftskrise – die schlimmste seit dem Ende der Sowjetunion – sowie die Spannungen in der kubanischen Gesellschaft, die sich im Juli 2021 in Protesten entluden. Angesichts dieser Ereignisse begannen die Bürger*innen der Karibikinsel, sich nach neuen Migrationsrouten umzusehen. Historisch waren die Beziehungen zwischen Kuba und der früheren UdSSR eng, Generationen von Kubaner*innen waren nach Moskau gegangen, um dort zu studieren, zu leben und sich niederzulassen. Auch wenn die Kriegslage die Migration in jüngster Zeit erschwert, so bleibt Russland – neben Guyana und Nicaragua – nach wie vor eines der wenigen Länder, in das Kubaner*innen einreisen können, ohne zuvor mühsam, bürokratisch und kostspielig ein Visum beantragen zu müssen.

Soziale Medien stellen für versprengte Communitys oft die wichtigste, wenn nicht sogar die einzige Form der Verbindung dar. Insofern nehmen Mobiltelefone in der Erfahrungswelt von Migrant*innen einen zentralen Platz ein, und es überrascht nicht, dass sie auch diesem Film seinen Puls geben. Weit davon entfernt, die Menschen zu entfremden, helfen Telefone hier, emotionale Bindungen zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Die vier Protagonisten des Films scheinen in ihren Geräten und durch sie zu leben. Sie produzieren selbst Inhalte und konsumieren andere. Derselbe Apparat gibt ihnen die Möglichkeit, Geld zu verdienen, Verbindungen aufrechtzuerhalten oder sich einfach abzulenken, aber auch, Migrationsrouten zu dokumentieren, sich zu orientieren und mit Freund*innen und der Familie in Kontakt zu bleiben. Die Figuren des Films nehmen ihr Alltagsleben mit ihren Telefonen auf und teilen es anderen mit. Sie tragen damit zur Schaffung eines queeren Exilarchivs bei. Ihre Körper, Gesten, Erinnerungen und der Schmerz ihrer diasporischen Enwurzelung werden aufgezeichnet und in einem Akt des Widerstands gegen institutionelle Homophobie lebendig gehalten.

Die mobilen Technologien, denen wir im Film begegnen, haben zudem innovative Formen transnationaler digitaler Narrative hervorgebracht, wobei die Geräte und verschiedenen Plattformen kollektive kulturelle Konversationen innerhalb einer größer werdenden Öffentlichkeit begünstigen. In LLAMADAS DESDE MOSCÚ wird ein solches Leben, in dem die Grenzen zwischen dem Digitalen und dem Körperlichen verschwimmen, in Reinkultur sichtbar: Facebook-Liveübertragungen, Klingeltöne, Chat- und Kommentar-Benachrichtigungen, Rückkoppelungen afugrund der schlechten Verbindung und Meldungen über einen niedrigen Batteriestatus infiltrieren die Tonspur des Films.

LLAMADAS DESDE MOSCÚ fügt der Tradition des migrantischen kubanischen Kinos eine einzigartige Facette hinzu – mit einem Filmemacher, der selbst nach wie vor auf der Insel lebt, aber ins Ausland reist, um die diasporische Erfahrung anderer aufzuzeichnen und zu teilen. Sich selbst schreibt Yero schon früh in das Narrativ des Films ein, nimmt er sich doch selbst dabei auf, wie er die Rückgabe der Schlüssel jener Wohnung organisiert, in der die Dreharbeiten stattgefunden haben. Durchgehend zeigt der Film zudem den Austausch, den der Regisseur mit Freund*innen in Form von Anrufen und im Bild eingeblendeteten Textnachrichten pflegt, Korrespondenzen nach und aus dem verschneiten, vereisten Moskau und später Havanna. Sichtbar wird in diesem Austausch die vielschichtige Einsamkeit der rund um den Globus verstreuten Migrant*innen erster Generation. Gezeichnet von Nostalgie, Trennung und Fernbeziehung, spiegelt sich im Alltag dieser jungen Menschen Kubas geografische und politische Isolation, zudem werden wir daran erinnert, dass prekäre und ausbeuterische Arbeitsbedingungen sowie psychische Probleme überdurchschnittlich oft queere Migrant*innen of colour betreffen. Deren Nachrichten sind ein Weckruf für alle, die sich in einer ähnlichen Situation befinden, für alle, die mit sprachlichen oder soziokulturellen Herausforderungen kämpfen, Veränderung fürchten oder tiefe Sehnsucht empfinden. Wir können nur hoffen, dass am anderen Ende der Leitung immer jemand abnimmt und zuhört.

Zaira Zarza ist Filmkuratorin und Assistant Professor an der Université de Montréal.

Übersetzung: Dominikus Müller

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