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O ESTRANHO (The Intrusion) handelt von einem Ort – dem internationalen Flughafen Guarulhos bei São Paulo. Aber stimmt das eigentlich? Der französische Sozialwissenschaftler Marc Augé hat einmal behauptet, Flughäfen seien das genaue Gegenteil von Orten: Nicht-Orte. Er verglich sie mit Einkaufszentren, Busdepots und Parkplätzen – allesamt Pseudo-Orte, eher funktional als sozial, eher benutzt als bewohnt, grundsätzlich vergänglich und unpersönlich. Flughäfen stehen nach Augés Auffassung beispielhaft für die „Supermoderne“, jene von Kapitalismus und Technik verbreitete kulturelle Krankheit, durch die unsere Beziehung zu Raum und Zeit aus den Fugen geraten ist. Geben Flughäfen uns das Gefühl, Teil des Jet-Sets zu sein oder unsere Vitalität zu stimulieren? Oder empfinden wir, wenn wir uns durch derartig befremdliche Landschaften bewegen, nicht etwas, das eher einem Gefühl von Einsamkeit nahekommt?

Bei den Verfechter*innen dieser Moderne – bei all den Entwicklern, Architekten, Ingenieuren, Ökonomen, Politikern, Erneuerern und Missionaren der Globalisierung –, die Flughäfen als Symbole des Fortschritts ansehen, als Gelegenheit für Nationen aus der zweiten und dritten Reihe, sich ein anderes Image zu geben, würden solch nachdenkliche Spekulationen nur Verblüffung hervorrufen. Im Jahr 2009 schloss sich Brasilien, Herkunftsland der Filmemacher*innen Flora Dias und Juruna Mallon, mit anderen Nationen offiziell zur Gruppe der BRIC-Staaten zusammen (das Akronym steht für Brasilien, Russland, Indien, China; seit 2010 lautet es BRICS, weil Südafrika hinzugekommen ist). Ziel ist es, den kollektiven Status dieser Länder als Heimat einer schnell wachsenden und ausgabefreudigen Mittelklasse anzupreisen, als Lieferanten von – häufig seltenen – Rohstoffen sowie als zentrale Knotenpunkte im Atlas der internationalen Finanzwirtschaft. Für Brasilien und die BRICS-Staaten insgesamt stellen Flughäfen Manifeste dar: Das Lokale ist nunmehr provinziell. Und: Das, was war, darf nicht mehr länger sein.

Ein unmittelbar heraufbeschworenes Dorf

Flughäfen werben für Geschwindigkeit, Luxus und Komfort. Sie streben danach, zu Marken zu werden. Sie hoffen darauf, dass man sie mit Spaß, Freiheit, Mobilität und Erfolg assoziiert. Verbunden mit – aber auch losgelöst von – den Regionen, in denen sie sich befinden, sind sie sorgfältig hergestellte kulturelle Artefakte, deren Fremdartigkeit in einem Essay von J.G. Ballard aus dem Jahr 1997 beschrieben wird. Der moderne Flughafen, so Ballard, ist „ein unmittelbar heraufbeschworenes Dorf, dessen Lebensdauer lang genug ist, um uns zu beruhigen, und kurz genug, um keine Last zu sein. Die Abfertigungshallen sind die Ramblas und Agoras der Stadt der Zukunft – zeitfreie Zonen, wo alle Uhren der Welt zur Schau gestellt werden, ein sich unaufhörlich aktualisierender Atlas der Ankünfte und Zielorte, und wo wir für kurze Zeit echte Weltbürger*innen werden“.

Was ist der Schauplatz von O ESTRANHO? Es ist nicht die Abflug- und Ankunftshalle, wo sonst so viele Flughafendramen spielen – Krimis, in denen gewiefte Spione mit gefälschten Dokumenten die Sicherheitskontrollen umgehen; romantische Komödien wie LOVE ACTUALLY, in denen vom Schicksal geschlagene Geliebte sich küssen und beweinen. Doch Dias und Mallon interessieren sich weder für Reisende noch für Tourist*innen. Oder gar für Guarulhos als internationalem Ort. (In den letzten Monaten haben sich dort weit über hundert afghanische Migrant*innen auf der Flucht vor den Taliban ein provisorisches Zuhause eingerichtet.) Diese Art von Menschen sind hier nur Kulisse, auf Kniehöhe aufgenommen, weniger lebendig als ihre Turnschuhe oder Markenkoffer.

Wir werden ermuntert, Flughäfen nicht ausschließlich als Orte für Himmelfahrten und Fluchtbewegungen zu betrachten, sondern auch als Konfliktzonen.

Flughäfen brauchen Beschilderung, Klarheit und Orientierung. Dias und Mallon dagegen ziehen es vor, die Grenzen des Sichtbaren zu erkunden. Sie sind angezogen von unbestimmten Terrains – von Begrenzungszäunen, Hangars, Logistiklagern und Parkplätzen. Sie zeigen Arbeiter*innen, die Arbeitsunfälle erlitten haben, deren Verträge auslaufen, die sich die Spirituosen oder technischen Geräte, die es im Duty Free gibt, nicht leisten können. Diese Arbeiter*innen werden oft so gefilmt, dass sie von der Kamera wegschauen, gedankenverloren, versunken in Tagträumen. Brodelt es in ihnen wegen ihrer niedrigen Löhne? Ziehen sie in Erwägung, einfach davonzulaufen? Und falls sie träumen: Wovon träumen sie? Von wem, von welchen Zeiten?

Faktisch ist Guarulhos eine Grabstätte. Der Flughafen befindet sich auf indigenem Land. Seine Betonhallen sowie Start- und Landebahnen wurden auf frühere Dörfer gebaut, auf Bäume, auf ehemals üppige Natur. Frauen sprechen von Bauernhöfen, Guaven, freilaufenden Hühnern und flussnahen Erinnerungen. Sie können alte Rituale nicht vergessen – und schwören, es niemals zu tun. Tänze und Reinigungen. Rauchen und Schaukeln. Sie sprechen vom „Wald als Heilmittel“. Von einer „Umarmung“ durch die Natur. Dieser Welt – der Welt der Ahnen, der Welt einer sozialen Bindung herstellenden Kultur – ist durch den Flughafen und die in ihm verkörperten Werte Gewalt angetan worden. Jetzt sind die uralten Gewässer vergiftet, die Luft kohlendioxidhaltig.

Gehört und gefühlt

Das Herzstück von O ESTRANHO ist der Ton. Der Film ist leise. Er fordert uns auf, näherzukommen, ganz genau hinzuhören. Wasser, Vögel, Insekten, Wind, sich wiegende Äste, menschlicher Atem: Hier summt das Leben. Später: Gesänge und Rhythmen, Lieder wie Geister. Sie sind das Gegengift zum Dröhnen der Motoren (die fliegende Gänse einsaugen und braten), zu den mit Containern beladenen Lastwagen, zur abgepackten Euphorie in den Flughafengebäuden. Dies sind keine Geräusche, es ist Lärm – Lärm, der alles andere übertönt. Er steht für die Akustik des Ökozids. 

Flughäfen sind voll von Zeitanzeigen. Von Fluggästen, die sich abhetzen, um rechtzeitig zu ihren Flugsteigen zu gelangen. Von Mitarbeitenden der Gastronomiebereiche, die eilig Kund*innenbestellungen bedienen. Von Gepäckabfertigern, die sich den Rücken verrenken, um die Gepäckbänder so schnell wie möglich leerzuräumen. Hier herrscht eine strafende Zeit – maschinell, industriell. Dias und Mallon jedoch suchen nach etwas anderem. Sie beginnen ihren Film mit einer Reihe von Miniaturen – aus den Jahren 1590, 1932, 1893, 1677, 1492: Menschen auf Pferden, auf Felsen liegend, nackt an Bächen. Hier ist die Zeit nicht-linear, geheimnisvoll, assoziativ, mehrkammerig. Später gibt es Nahaufnahmen von Blumen und Blättern, von einer feuchten Geologie. Wie stark auch immer sie angegriffen wird: Die Natur besitzt ihre eigenen Zyklen, ihre eigenen Widerstandskräfte.

Flughäfen kann man als Tempel einer krankmachenden Moderne betrachten. Christopher Schaberg sieht sie etwas optimistischer als „kritische Räume, innerhalb derer wir lernen könnten, wie wir auf diesem Planeten zusammenleben können“. O ESTRANHO schwankt zwischen diesen beiden Positionen. Wir werden ermutigt, über die Menschen auf der Leinwand zu spekulieren: Sind das Schauspieler*innen? Laiendarsteller*innen? Protagonist*innen aus dem realen Leben? Wir werden aufgefordert, aufmerksam zu sein dafür, wer oder was nicht im Bild zu sehen ist – tote Eltern, alte Stämme, alte Pfade, verschüttete Schichten. Wir werden ermuntert, Flughäfen nicht ausschließlich als Orte für Himmelfahrten und Fluchtbewegungen zu betrachten, sondern auch als Konfliktzonen. Als Orte für Kämpfe, die in der Vergangenheit ausgetragen wurden und die damit zwangsläufig auch in der Zukunft auszutragen sein werden.

 

Sukhdev Sandhu leitet das Colloquium for Unpopular Culture an der New York University.

Übersetzung: Stefan Pethke

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