Direkt zum Seiteninhalt springen

Ein Film über das Filmemachen, in dem der Film-im-Film vielleicht gar kein Film ist, sondern eine Fantasie, ein Traum, eine falsche Erinnerung oder gar das Leben vor dem Film – mit all diesen Virtualitäten und noch mit einigen mehr spielt das vertrackte Regiedebut von Heong-jun Yoo. URIWA SANGGWANEOPSI (Regardless of Us) ist ein epistemologisch äußerst instabiles Objekt, das nicht unabhängig von den Verstellungen und Entstellungen der Perspektive gedacht werden kann, mit denen wir Zuschauer*innen dieses materielle Objekt als mentales Bild subjektivieren und dadurch die vermeintliche Objektivität des Gesehenen trügerisch werden lassen.

Der Film beginnt nach dem Film: Die Schauspielerin Hwa-ryeong (Cho Hyun-jin) verpasst die Premiere eines Films, in dem sie die Hauptrolle spielt, weil sie nach den Dreharbeiten einen Schlaganfall erlitten hat, der teilweise ihr Gedächtnis in Mitleidenschaft gezogen hat. Im Krankenbett empfängt sie nacheinander die Produzentin, den Regisseur, eine Schauspielerin, die im Film ihre Tochter spielt, und schließlich zwei Schauspieler. Sie alle berichten ihr von dem fertigen Film, den sie nicht sehen konnte. Scheinbar hat sie in dem Film eine Schauspielerin verkörpert, die in einer Lebenskrise steckt, sich von ihrem Mann getrennt hat, eine Affäre mit einem anderen Mann eingegangen ist, was sie wiederum von ihrer erwachsenen Tochter entfremdet hat. Urplötzlich fasst sie die Entscheidung, sich umzubringen.

Das könnte der Film sein, den ihr Cast und Crew nacherzählen, um ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Aber spätestens bei dem Besuch der beiden männlichen Schauspieler sorgen verschiedene Versionen des gleichen Films für Ungereimtheiten: Hwa-ryeong kann sich daran erinnern, dass der Jüngere der beiden Männer den Freund ihrer Filmtochter gespielt hat, dieser aber behauptet, dass er im Film ihren Sohn gespielt hätte. Welcher Version ist zu trauen?

Sehen wir also nicht den „realen“ Film-im-Film, sondern den erträumten Film, der Hwa-ryeongs Wunscherfüllung entspricht, den Traum eines Films, der zugleich der Film eines Traums ist?

In der Kunstgeschichte gibt es für die mündliche oder schriftliche Beschreibung eines Bildes den Begriff der „Ekphrasis“, die auf die imaginative Verlebendigung eines abwesenden Kunstwerks kraft der Sprache abzielt. In URIWA SANGGWANEOPSI erzeugen die widersprüchlichen Erzählungen und die Erinnerungslücken der Protagonistin eine polyperspektivische Ekphrasis des abwesenden Films, die zugleich die empirische Existenz dieses Films in Frage stellt: Können wir sicher sein, dass dieser Film wirklich je gedreht worden ist? Hwa-ryeong schläft im Krankenbett ein.

Im Moment dieses Zweifels setzt eine abrupte monochrom-grüne Einstellung eine Zäsur in den Schwarzweißfilm. Der zweite Teil von URIWA SANGGWANEOPSI beginnt. Hwa-ryeong und ihre Tochter streiten, und wir glauben uns endlich in dem Film-im-Film, den uns die Ekphrasis des ersten Teils sowohl verbalisiert als auch vorbehalten hat. Damit scheint zunächst die Behauptung des männlichen Schauspielers korrigiert, da wir einen Film über eine Mutter und ihre Tochter sehen, und man, als Hwa-ryeong die Wohnung für ein Vorsprechen verlässt, den Freund ihrer Tochter auf der Straße sieht, der von eben dem Schauspieler gespielt wird. Aber in der nächsten Szene ist dieselbe Hwa-ryeong bei einem Streit mit ihrem Mann zu sehen, und nun ist der Freund ihrer Tochter plötzlich ihr Sohn!

Auf unmögliche Art und Weise koexistieren zwei konkurrierende Fassungen in ein und demselben Film, der aber nun als geträumter Film von Hwa-ryeong lesbar wird, die ihr Vergessen des Films anhand der gespaltenen Ekphrasis ihrer Schauspielkolleg*innen in ihrer Imagination reinszeniert. Sehen wir also nicht den „realen“ Film-im-Film, sondern den erträumten Film, der Hwa-ryeongs Wunscherfüllung entspricht, den Traum eines Films, der zugleich der Film eines Traums ist, eines Traums, in dem dieselbe Person sowohl ihre Tochter und die Freundin ihres Sohnes ist und dieselbe Person der Sohn und der Freund der Tochter? Der Traum kennt keine Negation, würde Freud zu diesen Doppelrollen wohl sagen.

Aber das experimentelle Verwirrspiel von URIWA SANGGWANEOPSI geht noch weiter: Als Hwa-ryeong beim Vorsprechen erscheint, wird sie vom Regisseur und der Produzentin interviewt, die wir im ersten Teil gesehen haben. Nun stellt sich die Frage, ob es sich vielleicht gar nicht um einen realen oder virtuellen Traumfilm oder Filmtraum handelt, sondern um die zeitlichen Ereignisse vor dem Film, die erst dazu führen, dass der Film-im-Film überhaupt erst zustande gekommen ist, den wir geglaubt haben zu sehen, aber nun doch nicht zu sehen bekommen. Damit wird uns, den Zuschauer*innen endgültig der Boden unter den Füßen weggezogen. Am Schluss zoomt die Kamera in das Gesicht von Hwa-ryeong, aber anstelle einer Gestalt ist nur Schwärze.

Sulgi Lie ist Filmwissenschaftler und Theoretiker und momentan Gastprofessor an der Universität der Künste Berlin.

ZURÜCK ZUM FILM

Gefördert durch:

  • Logo des BKM (Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien)
  • Logo des Programms NeuStart Kultur