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Barbara Wurm: Ich habe aus einem Text von Conny Klauß, der in dem von ihr gemeinsam mit Ralf Schenk herausgegebenen Buch „Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme“ enthalten ist, erfahren, dass es eine Verbindung zwischen der Jerusalemer Aufführung Ihres berühmtesten Films VERRIEGELTE ZEIT im Jahr 1991 und jenem Film gibt, den wir nun im Forum Special (mit dem thematischen Fokus „Relations & Resistance“) wieder zeigen: DIESE TAGE IN TEREZÍN. Auf den Film selbst bin ich in einem Arbeitsgespräch mit Stefanie Eckert, Vorstand der DEFA-Stiftung, gestoßen. Heino Deckert als Produzent hat sich über das Interesse gefreut und den Plan der Wiederaufführung tatkräftig unterstützt. Erst später hat sich herausgestellt, dass auch dieser Film natürlich im Forum lief, und zwar 1997. Was hat es nun mit der Verbindung zwischen der Vorführung von VERRIEGELTE ZEIT in Jerusalem und der Entstehung dieses Films auf sich?

Sibylle Schönemann: Für mich ist die Einladung mit VERRIEGELTE ZEIT nach Israel nicht unkompliziert gewesen. Ich habe gedacht: „Ich kann mit dem Film nicht nach Israel fahren. Was soll so ein Film über eine kleine Opfergeschichte? Man würde mir sagen, „Worüber reden Sie da überhaupt? Haben sie noch nie vom Holocaust gehört?“ Ich hatte Angst, dass die Leute ins Kino gehen und dann das in ihm dargestellte deutsche Unrecht an dem Unrecht messen, das ihnen widerfahren ist. Aber dann habe ich mich doch überreden lassen und bin hingefahren. Als die erste Vorführung lief, klapperten und knallten die Gitter im Film, und diese Gedanken gingen mir immer wieder durch den Kopf. Ich wusste ja, dass alte Leute im Kino waren, und ich dachte, „Was löst das jetzt in ihnen aus?“ Als der Film zu Ende war, gab es noch das Angebot, in der Bibliothek der Jerusalemer Kinemathek über den Film zu sprechen. Es waren einige Leute da und ich war ziemlich nervös. Das Gespräch begann und eine Frau, die ein bisschen älter als ich war, sagte: „Ich muss mich jetzt mal melden und ich muss was sagen: Ich bin als Kind in Auschwitz gewesen.“ Dann machte sie eine Pause. „Und ich hätte auch gerne diese Fragen gestellt, die Sie hier stellen … aber ich konnte sie nie fragen …“ Wieder eine Pause „… und jetzt möchte ich Ihnen für den Film danken und dass Sie für mich diese Fragen gestellt haben.“ Diese Worte hatten großes Gewicht. Daraufhin habe ich weniger Ängste und Bedenken gehabt. Es gab viele gute Gespräche, die intensiv und sehr berührend waren. Ich wusste, dass ich nicht nur Vorwürfe hören würde, weil ich keinen Film über den Holocaust gemacht habe. Und dass man meinen Film richtig einzuordnen wusste. Das war ja erstmal nicht mein Plan, einen Film über die Shoah zu machen und das wäre nicht unbedingt mein Nachfolgeprojekt gewesen. Die Begegnungen mit Israel und mit den Menschen dort haben eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung gespielt. Die Menschen dort sind mit mir als Deutscher, als deutscher Filmemacherin, ganz unterschiedlich umgegangen. Ich habe die ganze Zeit Englisch gesprochen und war nicht sofort als Deutsche zu erkennen. Einmal traf ich zufällig ein paar alte Leuten in einer Ausstellung und wir kamen zwanglos in ein freundliches Gespräch, als sie mich fragten: „Wo kommen Sie denn her?“ Und als ich dann Deutschland sagte, brachen sie umgehend das Gespräch ab und ließen mich stehen. Eine solche Begegnung gab es auch. Später bin ich mehrmals in Israel gewesen und habe viele verschiedene Leute kennengelernt. Dann hat mich jemand mit Lena Makarova bekannt gemacht, die gerade vor vier Jahren mit ihrer Familie nach Israel emigriert war, eine russische Jüdin. Sie hatte sich schon von Russland aus intensiv mit Theresienstadt beschäftigt und umfangreiche Recherchen gemacht. Das war ihr Thema. Sie hatte VERRIEGELTE ZEIT gesehen und glaubte ihr Anliegen in guten Händen bei mir. Sie erzählte mir von Karel Švenk.

Die Tatsache, dass inmitten diesen ganzen entsetzlichen Geschehens Humor überhaupt noch eine Rolle gespielt hat, beeindruckte mich sehr.

BW: Hat sie eher zufällig von ihm erzählt oder in dem Sinne, dass es eine bedeutende Person war, zu der zu recherchieren sich lohnte?

S.S.: Sie hatte schon begonnen Material zu sammeln, hatte Kontakte zu Leuten, die ihn kannten. Das hätte ich allein gar nicht leisten können. Schon wegen der Sprachproblematik. Es war eine große Vorarbeit, sie war ständig in den Archiven, auch in den tschechischen, weil sie Tschechisch konnte, und ständig am Suchen. Die Tatsache, dass inmitten dieses ganzen entsetzlichen Geschehens Humor überhaupt eine Rolle gespielt hat, beeindruckte mich sehr. Ich habe mich an eigene Erfahrungen erinnert. Auch wenn das nicht zu vergleichen ist. In der schrecklichsten Zeit meines Lebens, die im Gefängnis der Stasi war, habe ich mit meiner Zellenmitinsassin gelacht und extrem alberne Momente gehabt, wie nie in meinem Leben sonst! Dieses Lachen hat uns für Sekunden das Gefühl von Überlegenheit und Stärke gegeben und wir haben uns wehrhaft gefühlt. Ich glaube, dass diese eigene Erfahrung wichtig war für den Film. Aber unter welchen extremen Bedingungen das für die Menschen in Theresienstadt möglich war! Trotzdem fanden sie Wege, heimlich an Musikinstrumente heranzukommen. Es sind Tausende von Geschichten, so viel Erzählenswertes während der Recherche aufgetaucht, neben dem ganzen Schrecken. Dann habe ich mich häufiger mit Lena getroffen und wir begannen gemeinsam an dem Projekt zu arbeiten. Ich sagte ihr auch, dass es nicht so leicht sein würde, wie sie denkt, für einen weiteren Film über die Shoah Geld in Deutschland zu bekommen. Und es gab Bemerkungen, wie: „Nicht noch so einen Film, es gibt doch schon genug, es ist doch schon alles erzählt.“ Doch wir haben an unser Projekt geglaubt und dann auch bald über Heino Deckert und Hannes Schönemann eine erste Filmförderung in Mecklenburg- Vorpommern beantragt und auch bekommen. Später kam dann das tschechische Fernsehen „mit ins Boot“ und hat über Beistellungen einen Großteil der Endfertigung ermöglicht.

BW: Sie sprechen aber nicht Tschechisch, oder?

S.S.: Nein, das war für mich auch eine völlig neue Schwierigkeit, dass ich immer eine Übersetzung benötigte. Was mich interessiert hat, neben der Recherche zu Švenk, waren natürlich die Menschen, die ihn gekannt haben, mit ihnen zu sprechen. Mich haben ihre Geschichten interessiert. Ich habe mich zeitweise weniger mit Švenk als mit den Schicksalen dieser Menschen beschäftigt. Es war eine sehr intensive und schwere Zeit. Das ging von 1992 bis 1997. 1995 haben wir angefangen zu drehen. Dann kam die Sängerin Victoria Hanna Gabbay dazu. Lena kannte sie. Sie war die Tochter eines Rabbiners. So hatten wir diese ganz junge Frau mit dabei, die in einer religiösen Familie aufgewachsen war und in heftigen Auseinandersetzungen mit ihr lag. Sie wollte nicht nur singen, sondern performen und provozieren. Sie hatte wiederum einen anderen Bezug zu dem Stoff als Lena und ich. Es war eine spannende Konstellation, wobei sich im Laufe der Dreharbeiten auch erwiesen hat, dass es nicht reibungslos ablaufen kann und zum Teil sehr anstrengend wurde. Es gab unterschiedliche Interessen, verschiedene Auffassungen, was wichtig zu erzählen sei. Manchmal darüber, wohin wir als nächstes gehen sollten, welcher Ort jetzt wichtig sei, was zu tun wäre. Wir hätten eigentlich mehrere verschiedene Filme machen können. Beide Frauen hatten ja ihre Argumente und ihre Sicht, und ich auch meine. Sich zu entscheiden war oft nicht leicht. Die Realität in Theresienstadt hat Victoria tief berührt, sie beschreibt das ganz schön und man spürt es ja auch. Es war manchmal ein schwieriges Geflecht mit uns dreien. Aber dadurch sind eben auch besondere Situationen entstanden.

BW: In Ihrem Film gibt es zwei Zaubermomente. Der eine ist der Augenblick, da man merkt, dass Švenk gleichsam in den Hintergrund gerät und die Menschen vor der Kamera alle irre schnell lebendig werden. Immer neue Leute kommen hinzu, werden wie ein weiterer Zopf in den Film eingeflochten und bekommen innerhalb kürzester Zeit eine große Lebendigkeit. Was auch mit dieser Vielfalt der Sprachen zu tun hat und damit, dass es so unterschiedliche Charaktere sind. Dabei ist und bleibt Švenk Anlass und Thema, und am Ende durch das gemeinsame Singen des „Theresienstädter Marschs“ wiederbelebt. Der zweite Aspekt, den ich so gelungen finde, ist, dass die wechselnden Lager und die wechselnden Positionen fundamentale Fragen von Identität stellen. Also was bedeutet es, dass Victoria nicht nur Jüdin ist, sondern auch der Generation der Nachkommen der Holocaustüberlebenden angehört? Der Einstieg, dieses Gespräch mit ihr und ihre Zweifel sind absolut unglaublich.

S.S.: Ja, auch ihr Stottern, diese Not, sich ausdrücken zu wollen, die Suche nach den passenden Worte für das, was sie erlebt. Ihre starke Emotionalität ist so spürbar. Beim Singen stottert sie nicht.

BW: Und alle finden sich dann über die ihnen jeweils eigene Kunstform wieder, genau wie Švenk über seine Kunst zur Sprache wiederfindet, gegen das Schweigen, zum Lachen gegen den Terror. Das sind sehr viele schöne Spiegelungen, die womöglich nicht bewusst entstanden sind, aber im fertigen Film von Ihnen herausgearbeitet wurden.

S.S.: Das heißt natürlich auch, dass diese ganze Vorgeschichte, also die Kontakte, die vielen langen Gespräche, in denen Vertrautheit zwischen mir und den alten Protagonist*innen entstanden war, wesentliche Voraussetzung dafür war, dass sie bereit waren, diese schmerzhaften Lebenskapitel zu öffnen und in dem Film mitzuwirken. Auch bei einem solchen Film ist natürlich eine bestimmte Länge vorgegeben, man kann nicht unendlich lang werden und muss sich entscheiden. Das Bild des Zopfes, das Sie eben verwendet haben, finde ich sehr schön.

BW: Es ist von Christiane Büchner, meiner Kollegin, geklaut ...

S.S.: Man hätte nicht nur dies oder nur das zeigen können, dann wären wir dem Thema, dem Ansatz und unserer Konstellation überhaupt nicht gerecht geworden. Das war natürlich eine Schwierigkeit, der wir uns da gestellt haben, ohne es zu wissen. Wir sind naiv an diese Aufgabe gegangen, aber mit einer großen Leidenschaft.

Gary Vanisian: Haben Sie sich, bevor Sie angefangen haben zu drehen, trotzdem darauf verständigt, dass Sie die alleinige Regisseurin sind und die anderen die Protagonistinnen?

S.S.: Ja, das war klar, weil ich ja die einzige Regisseurin war. Lena hätte mit Sicherheit nie gesagt: „Kamera ab“ oder „Jetzt drehen wir“, das oblag immer mir. Aber im realen Tun, im Reden miteinander haben sie beide inhaltlich eine große Rolle gespielt und ohne sie wäre der Film natürlich sowieso nicht so, wie er jetzt ist.

GV: Und stand die Tatsache, dass Sie selbst so präsent im Film sind, auch schon früh für Sie fest oder hat sich das bei den Dreharbeiten ergeben? Diese Dynamik, diese Möglichkeit, dem Film beim Entstehen zuzuschauen, das ist bei Dokumentarfilmen eine eher ungewöhnliche, seltene Herangehensweise. Man sieht sozusagen der Regisseurin auch bei der Suche zu. Dies hat mich sehr berührt.

S.S.: Es stand auch bei diesem Film für mich nicht von Anfang an fest. Es hat sich so ergeben. Wahrscheinlich ist das meine Art, Filme zu machen. Vielleicht wurde es klar, als wir drei nach Terezín fuhren und zu suchen begannen, in dieser Konstellation: eine russische Israelin, eine Israelin und eine Deutsche. Ich hätte mich da gar nicht rausnehmen können.

BW: Die Suche und die Reflexion über den Zugang zum Thema ganz bewusst selbst zum Thema zu machen – war das eine konzeptionelle Überlegung? Wie kam es dazu?

S.S.: Das war nicht von Anfang an so geplant. Die Suche war geplant, aber die Reibung, die Auseinandersetzung mit in den Film hineinzulassen, das hat sich ergeben durch die Positionen, die sich offenbarten. Das ist ja das Gute beim Dokumentarfilm, dass man flexibel sein kann, dass man sich dem hingeben kann, was die Realität ergibt. Die Kraft, die dabei entsteht, auch Konflikte, das kann ich nicht außen vorlassen. In dem Moment, da wir drei bereit waren, mit in dem Film zu sein, gemeinsam zu suchen, war das naheliegend. Das war aber nicht am ersten Drehtag klar.

Diese unterschiedliche Betrachtungsweise der Generationen und die Selbstschutzmechanismen von beiden Seiten haben mich interessiert, diese ganze Komplexität, innerhalb einer Familie mit solchen Geschichten zu leben.

BW: Diese thematische Suche auch über die unterschiedlichen Generationen hinweg, die Mutter-Tochter-Geschichte, das transgenerationale Moment und auch das Element des Gedächtnisses, war das etwas, was sich durch die Protagonistinnen mehr oder weniger zufällig ergeben hat?

S.S.: Ja. Mir war das wichtig, weil es sehr unterschiedlich sein kann: Man hat etwas erlebt, möchte es mitteilen und möchte es gleichzeitig nicht mitteilen, denn wenn man es mitteilt, tut es weh. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Aber wenn man sich nicht mitteilt, erfahren es die Kinder nicht. Und wenn man sich dann doch mitteilt und es wehtut, merken die Kinder, dass es weh tut und dann wollen sie gar nicht mehr wissen. Das ist Selbstschutz. In Gesprächen, auch noch in Israel, wurde mir oft gesagt: „Das ist so schön, dass du mir zuhörst. Denn meine Tochter interessiert sich nicht dafür und weicht mir immer aus, wenn ich etwas erinnere.“ Diese Erfahrung hatte ich auch selbst gemacht, ich konnte daher das, was eine meiner Protagonist*innen, Manka sagt, vollkommen nachvollziehen. Sie wollte doch, dass ihre Tochter erfährt, weshalb sie manchmal so anders ist als andere Mütter und was sie erlebt hat. Man merkt ja im Film auch, dass die Tochter angespannt ist, im Gegensatz zur Mutter, die so erleichtert ist und vieles erzählt. So entdeckt die Tochter schließlich ihre Mutter. Und durch deren Erzählungen eben nicht das erwartete Grauen, das die Mutter gesehen hat und erleben musste, sondern dass sie auch eine ganz normale junge und lebenslustige Frau gewesen ist. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise der Generationen, die Ängste und die Selbstschutzmechanismen von beiden Seiten haben mich interessiert, diese ganze Komplexität, innerhalb einer Familie mit solchen Geschichten zu leben.

BW: Es gibt Menschen wie Victoria, die Schwierigkeiten haben zu reden und stottern. Wenn sie dann aber andere Weisen des Ausdrucks finden, geht es, wodurch eine unheimliche Bewegung in den Film kommt, über Gesang, über Körperlichkeit. Gerade heute, wo im Film oft das Körperlose Maxime ist, die Trennung von Körper und Stimme, eine bestimmte Nicht-Expressivität, wirkt Ihr Film für mich wie aus einer anderen Zeit, im positiven Sinn wohlgemerkt. Hier ist jemand, der sich verausgabt und auch ständig eigene Grenzen überwindet.

S.S.: Ja, Victoria hat eine unglaubliche körperliche Präsenz mitgebracht. Sie hat Raum gebraucht für das, was emotional mit ihr passierte, und das, was ihr durch den Kopf ging. Das war nicht unbedingt immer synchron mit dem, was in Lenas Kopf vor sich ging oder in meinem. Mich hat auch die Gegenwärtigkeit des Ortes interessiert: Wie lebt man denn in so einem Ort weiter? Wie geht das? Wir haben auch dazu besondere Beobachtungen und Bilder gedreht, die aber am Ende nicht in den Film kamen. Wir fanden es zum Beispiel wichtiger, Victoria zu sehen, wie sie auf den Schienen sitzt und dieses Gedicht liest, das sie einen Tag zuvor gedichtet hatte, eine ironische Lobeshymne auf den Eisenbahnpionier George Stephenson, ohne den die Lokomotiven nicht hätten fahren können. Ich habe den Text wiedergefunden: “Dear Stephenson, I send you this letter/A quite important matter/Oh Stevie, what a brain/To invent locomotive/The brain of the train/Without your invention/Just try to imagine/I wouldn’t be sent to this fascinating vacation/’Cause this time my name is finally on the list/A fresh delivery to the mist/Hope to meet you in the East.” Solche Momente haben auch Lena und mich erschüttert. Sie lassen einen, wenn man sich darauf einlässt, noch nachträglich weinen.

GV: Einige Szenen mit Victoria haben etwas von einem kathartischen Ritual. Wenn sie auf den Schienen sitzt oder in dem Innenhof steht und singt. Eine Beschwörung, aber auch eine tolle Bildidee, die einerseits etwas Monumentales hat, aber auch eine Verlorenheit ausdrückt. Habt ihr solche Bildideen bisweilen auch intuitiv umgesetzt?

S.S.: Ja sicher. Dass wir etwas mit den Schienen machen wollten, wussten wir schon, auch in den leeren Kasernen. Aber was genau war noch nicht klar. Victoria kam dann mit diesem Text und dann gab es keine Frage mehr. Auch in dieser Einsamkeit der Kasernenhöfe wollte sie unbedingt singen. Es gab aber auch eine Zeit, in der sie gar nicht mehr drehen wollte, in der sie nicht mehr „belästigt“ werden wollte. Sie wollte nur für sich sein. Da stießen dann Dynamiken und Realitäten aufeinander. Lena, die unheimlich viel recherchiert hatte, die ihr ganzes Wissen und die Materialien, Briefe, die sie noch gefunden hatte und dergleichen, mit in den Film bringen wollte. Dann ich, die ich die Frage an diese Orte hatte, was aus ihnen geworden ist, wo die Vergangenheit in ihnen noch spürbar ist, „Ist sie noch in den Mauern oder schon weg? Sehen die neuen Einwohner der Stadt das noch oder sehen sie das nicht mehr?“ Und dann eben die Begegnung mit diesen wunderbaren alten Menschen, die das wirklich alles überlebt haben. Victoria hatte manchmal keine Kraft für diese Begegnungen. Als der Film seinen Kinostart hatte, sind wir mit ihm und mit Victoria auf Deutschlandtournee gegangen. Wir waren in etlichen Kinos und sie hat jedes Mal gesungen.

BW: Was haben Sie für Erinnerungen an diese Deutschlandreise mit Ihrem jüdischen Film?

S.S.: Es war sehr schön. Und ganz wunderbar mit Victorias anschließendem Gesang. Es kommen ja eigentlich nur Zuschauer zu solch einem Film, die ähnlich wie wir denken. Andere gucken sich „sowas“ nicht an. Es gab dann auch noch eine Südamerikareise, auf die ich vom Hamburger Filmbüro, wo ich damals gearbeitet habe, geschickt wurde. Es ging nach Argentinien, Chile, Uruguay, Paraguay. Die Vorstellungen dort waren meistens in den jüdischen Gemeinden organisiert, es gab interessante Diskussionen. Das waren zumeist Leute, die schon vor der Shoah ausgereist, geflüchtet waren, die noch emigrieren konnten. Manche hatten Probleme mit dem Film, mit dem Humor im Film. Je weiter die Menschen weg waren vom ursprünglichen Geschehen, umso größer war ihr Problem mit dem Film. Damit, dass es eben nicht der übliche Schwarz-Weiß-Film mit den Dokumentarfotos der ausgehungerten Häftlinge bei der Befreiung und mit den schockierenden Bergen von toten Menschen ist. Das kann man doch nicht weglassen, sowas könne man nicht machen, so lautete bisweilen das Argument. Wobei ja das auch inhaltlich im Film nicht ausgespart wird, es ist verhaltener dargestellt, aber durchaus thematisiert. Der Film spielt in der Gegenwart, aber wir singen ja nicht nur und sind lustig. Doch alle die Überlebenden, die älteren Menschen, die in dem Film zu Wort kommen, die waren einverstanden und fanden das richtig gut, dass sie endlich mal nicht nur als Opfer gezeigt werden, sondern dass man sieht, dass sie Widerstand geleistet haben, dass sie gelebt haben, dass sie Kraft hatten, dass sie überleben wollten, dass sie gelacht und geliebt und gelebt haben, dass auch das alles stattgefunden hat neben dem alltäglich präsenten Tod.

BW: Der Film ist ein Beitrag zur Geschichte von Theresienstadt und zur Erinnerungskultur. W.G. Sebalds „Austerlitz“ erschien 2001, Lanzmanns Film „Der Letzte der Ungerechten“ 2013. Was war das für ein Ort, Theresienstadt, Mitte der 1990er Jahre?

S.S.: Nun, den Ort zu beschreiben war ein Anliegen von mir, gerade weil so wenig sichtbar ist, dass hier über Jahre schlimme Verbrechen geschehen sind. Heute ist es eine gewöhnliche Kleinstadt in der Tschechischen Republik, die ganz normal bewohnt wird, in der Menschen arbeiten, Kinder zur Schule gehen, in der es ein paar Geschäfte und ein kleines Krankenhaus gibt. Die Frage, was von den historisch belasteten Orten bleibt, das man sich doch erinnern können muss, ist mir immer wichtig gewesen. Die Frage, wie man mit dem Erinnern umgeht. Oder aber mit einem speziellen Erinnerungstag wie etwa dem Shoah-Gedenktag in Israel, an dem das ganze Leben im Land zum Gedenken kurz stehenbleibt. Ich hatte ihn einmal in Israel erlebt. Damit ist Victoria aufgewachsen und das prägte auch ihre ganz besondere Beziehung zu Švenk und zu der Kraft der alten Leute. Man merkt ja, wenn sie mit denen zusammen ist, auch nachher, wenn sie sich verkleiden und tanzen, dass das für sie wichtig ist. Das wiederum spielt mit in die Erinnerungskultur rein, also die Berücksichtigung dessen, dass es unterschiedliche Generationen gibt, die unterschiedlich gucken und sich unterschiedlich erinnern wollen. Unser Film hat dies zu zeigen versucht, ohne irgendwas auszusparen. Wir wollten eine gegenwärtige und vielschichtige Betrachtungsweise.

GV: Sie haben am Anfang des Gesprächs gesagt, dass Sie über die Shoah mehr oder weniger Bescheid wussten. Doch woher? In der DDR war das Gedenken an die Shoah lange Zeit unterdrückt. Wann haben Sie begonnen, sich thematisch wirklich damit zu beschäftigen?

S.S.: Erst nach meiner Ausreise aus der DDR, weil es dann Materialien gab, die eine ganz andere Fragestellung ermöglichten. Den Begriff der Shoah gab es in der DDR nicht. Auch den Begriff des Antisemitismus gab es dort im gesamten Unterricht nicht. Opfer der Naziherrschaft – das waren Kommunisten, Widerständler, die in den Zuchthäusern und Lagern gesessen haben, in Buchenwald und Sachsenhausen und die umgebracht worden sind. Und die dann später, also jene, die überlebt hatten, unsere Regierung bildeten. Das waren die Guten. Und die Nazis saßen im Westen. Das war alles. Daher gab es eine ganze Menge, was ich nachlesen musste. Es war eine Aufgabe ohne Ende.

BW: Waren die Juden in der DDR keine genannte Opfergruppe?

S.S.: Die Juden, die es in der DDR gab, waren mehr oder weniger unsichtbar. Jüdische Kultur hat nicht stattgefunden. Meine Eltern hatte Freunde, die Juden waren, die haben nicht viel erzählt. Die Frau kam aus Israel. Bei ihnen gab es Mazze, das war besonders. Der Vater und die mit uns gleichaltrigen Kinder gehörten zur Gruppe der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und bekamen Renten dadurch. Wir wussten, dass sie ein paar Privilegien hatten und das fand ich bemerkenswert. Aber in den Schulbüchern kam dies nicht vor. Und Israel war ja für mich ein völlig unbekanntes Land, wie auch Amerika oder Japan oder Frankreich, sowieso irgendwo ganz weit weg in der Welt. Das kann man sich nicht mehr vorstellen, in welch einer begrenzten Welt wir gelebt haben.

BW: Die Menschen in ihrem Film sind alle polyglott ...

S.S.: Ja, es ist beeindruckend, wenn man mit Manka spricht und sie von einer Sprache in die andere wechselt, ohne es überhaupt zu merken. Das waren total weltoffene, junge Leute. Man sieht auch an den Fotos und an all dem, was sie erzählt, wie sie waren – wunderbare, kraftvolle, humorvolle junge Leute. Es ist ein so unfassbares Verbrechen. Entsetzlich, dass das alles passiert ist und passieren konnte. Und so traurig! Immer wieder traurig. Der Verlust ist so groß.

BW: Ihr Film wirkt auf mich auch wie eine Geste der Rücksichtnahme auf sein eigenes Schicksal in dem Gesamtgefüge der Welt – als Umgang mit der eigenen Schuld vielleicht.

S.S.: Ja, das geht nur über das Sprechen, über die Auseinandersetzung. Schuld kann man ja nicht pauschal zuschreiben. Wo beginnt die eigene Schuld? Wofür ist man verantwortlich, wofür nicht? Für die Shoah ist meine Generation nicht verantwortlich, aber für das, wie man damit umgeht, sind wir mitverantwortlich. Aber zieht sich nicht die Ablehnung von allem, was unbequem, kritisch und vor allem schuldbeladen ist durch die deutsche Geschichte?

GV: Der Film sollte ursprünglich „Der Chaplin von Theresienstadt“ heißen, wurde dann aber in DIESE TAGE IN TEREZÍN geändert. Was hat euch dazu bewogen?

S.S.: Das liegt ja auf der Hand. Es geht nicht nur um Švenk und die Suche nach ihm, es geht um viel mehr. Wir sind da, drei Frauen unterwegs in Theresienstadt, mit und zwischen uns passiert etwas. Andere Menschen kommen und erzählen von ihren Erlebnissen, nicht nur über Švenk. Der Ansatz hatte sich einfach geweitet. Dieser ursprüngliche Titel war schön und verlockend, aber er hätte in die Irre geführt. Den endgültigen Titel finde ich gut, weil er offener ist und alle angeschnittenen Aspekte einschließen kann.

BW: Es ist ein wunderbarer Titel zu einem wunderbaren Film. Und es war ein wunderbares Gespräch.

S.S.: Vielen Dank.

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