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Es beginnt wie ein Popsong. Hier bist du, hier bin ich, und nichts kann uns trennen. „Ich bin so glücklich, dass du hier sein kannst, Baby.“ Doch wo sind wir eigentlich? Das Bild ist von einer Vielzahl übersättigter Farben erfüllt, die sanft ineinander fließen. Es ist nicht nachvollziehbar, wo eine Farbe beginnt und eine andere endet. Cyan geht von Hellblau in Magenta über. Uns bleibt nichts anderes übrig, als aufzugeben und der Stimme zu folgen. Tatsächlich sind es sogar zwei Stimmen, zwei Glitches, die sich miteinander unterhalten, weder menschlich noch natürlich, mit Stimmen, die ohne Organe erzeugt werden. Sie haben eine gemeinsame Vergangenheit, die jedoch nicht von größerer Bedeutung ist. Was zählt, ist das Hier, was zählt, ist das Jetzt. „Ich bin so froh, dass du es geschafft hast, Baby.“ Es erinnert auf merkwürdige Weise an Carly Rae Jepsen, die ihr Gegenüber bittet, an sie zu glauben, denn zusammen seien sie übernatürlich: „You gotta believe in me … We are super natural“.

Es ist wie ein Popsong, doch es fühlt sich auch wie eine Art von Hypnose an, eine Meditation, ein Trip, ein Wirrwarr, ein Zustand, in dem sich unsere Gestalt langsam aufzulösen scheint

Ist es das, was Meerjungfrauen sehen, wenn sie die Augen schließen? Wenn sie sie wieder öffnen, erblicken wir schlafende Körper, schwimmende Körper, Regenbogen, einige Krebse, ein Paar Meerjungfrauen-Prinzessinnen, einen Felsen, Roboterspinnen, kreischende Drachenfrüchte, einen Blumen-Gangbang, eine Kristallkugel, digitale Tränen, Staub und Luft. Endloser Körper. Alles Körper. „Every day, euphoria“.

Es ist wie ein Popsong, doch es fühlt sich auch wie eine Art von Hypnose an, eine Meditation, ein Trip, ein Wirrwarr, ein Zustand, in dem sich unsere Gestalt langsam aufzulösen scheint. Ein Film voller unterschiedlicher Körper in den verrücktesten Formen wird zu einem Film über das Vergessen des eigenen Körpers, über das Gefühl, wie er sich aufzulösen beginnt, über Körper, die mit ihrer Umgebung verflochten oder mit anderen Körpern verschlungen sind. Körper ohne feste Gestalt oder Form, weder fest noch flüssig noch gasförmig, doch wandelbar, formbar, stets in der Entstehung begriffen. Es braucht nur einen grünen Schwanz oder einen erdfarbenen Boxhandschuh, um eine Meerjungfrau oder der Hulk zu sein. Halb Mensch, halb Superheld, nur Haut.

Eine Meerjungfrau ist nicht nur ein hybrides Wesen. Sie ist auch in verschiedenen Umgebungen zu Hause. In Wasser gehüllte Haut, in Luft gehüllte Haut, Haut als Schicht, als Membran, die Dinge durch uns hindurchfließen lässt, eine Art von Begegnung, ein neues Gefühl der Wahrnehmung. Unterschiedliche Körper, unterschiedliche Membrane, unterschiedliche Schichten. Filmaufnahmen vom Meer gelingen mit einer Super-8-Kamera anders als mit einem iPhone, jede Technik produziert einzigartige Erlebnisse. Der Film eilt wie im Rausch durch Aufnahmen von Webcam-Überwachungskameras und Instagram-Feeds, Live-Action und Animation, Zelluloid- und Digitalaufnahmen.

Verschiedene Körper müssen auch unterschiedlich gefilmt werden. SUPER NATURAL präsentiert eine besondere Form der Filmkunst, die nicht von einer Perspektive ausgeht, sondern stattdessen Zwischenperspektiven kreiert. Ein gemeinsam geschaffener Film über das Zusammensein, eine Reihe von Fragmenten, die alle auf individuelle Weise gestaltet wurden, ein Amalgam aus Momenten, viele Formen des Hier und Jetzt. Die Bildschirmoberfläche verwandelt sich in ein waberndes, glänzendes Gewebe, das alles miteinander vereint. Die übermütige Narration des Films hält sich nicht an die gängigen Vorstellungen davon, was eine Geschichte ist und wie sie erzählt werden muss, wer sie erzählt und wie sie sich anfühlen soll, und fordert uns alle auf, es ihr gleichzutun. Auf diese wunderbare Weise verschlungen erschaffen sich die Körper von Bild zu Bild selbst immer wieder neu.

„Ich treffe keine Entscheidungen außerhalb des Universums und springe dann in es hinein wie ein olympischer Turmspringer. Ich befinde mich bereits in ihm. Ich bin wie eine Meerjungfrau, fortwährend gezogen und ziehend, geschoben und schiebend, geschlenzt und schlenzend, gedreht und geöffnet, mich mit der Strömung bewegend, mich mit aller aufzubietenden Kraft von ihr abstoßend. Eine Umwelt ist keine neutrale leere Box, sondern ein Ozean voller Strömungen und Wellengang“, schreibt Timothy Morton. „Die Erde sollte als Ozean bezeichnet werden“, lautet die Antwort des Films. Und darauf wiederum die Antwort: „Wir sind alle Meerjungfrauen. Wir wissen es nur noch nicht.“

Dane Komljen ist der Regisseur von AFTERWATER, der ebenfalls im Forum der Berlinale 2022 läuft. Jorge Jácomes Gedanken zu dessen Film kann man hier lesen.

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