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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die berühmte Essayistin Susan Sontag ihren vielzitierten Essay „Krankheit als Metapher” (1978) ausgerechnet mit einer Metapher beginnt: „Krankheit ist die Nachtseite des Lebens“ hebt der Text an, in dem die Autorin die stereotypen, stigmatisierenden und romantisierenden Vorstellungen sowie blumigen Sprachbilder analysiert (und verurteilt), die über Krankheiten wie Tuberkulose und Krebs kursierten und kursieren. Sie beharrt dabei immer wieder auf der brutalen Realität des Krankseins, das die Lebenszeit entlang jener Linie zerreißt, die zwischen Gesundheit und Krankheit verläuft. Und so beschreibt Sontag das Leben auf der Kehr- bzw. Nachtseite des Lebens rundheraus als „eher lästige Staatsbürgerschaft“.

Éric Baudelaire dringt mit seinem hinreißenden neuer Langfilm UNE FLEUR À LA BOUCHE (A Flower in the Mouth) geradewegs zum Kern des Themenbereichs – Krankheit als Metapher – vor, zugleich erteilt er jeglicher Romantisierung durch seine Methode der radikalen Gegenüberstellung eine Absage. Er realisiert eine Trennung, die in Luigi Pirandellos metaphorisch betiteltem Theaterstück „L'Uomo dal Fiore in Bocca” (1923) bereits angelegt ist und entscheidet sich zudem für eine wortwörtliche Darstellung der vielsagenden Metapher, indem er Mittel des beobachtenden Dokumentarfilms einsetzt. UNE FLEUR À LA BOUCHE ist sowohl filmisches Diptychon als auch Zweipersonenstück, sowohl Essay- als auch Spielfilm. In dialektischer Weise verknüpft der Film Erinnerung und Erfahrung sowie Projektionen und Prognosen entlang eines Zeit-Raum-Kontinuums, das auch unsere heutige, pandemiegeplagte Existenz einschließt.

UNE FLEUR À LA BOUCHE ist sowohl filmisches Diptychon als auch Zweitpersonenstück, sowohl Essay- als auch Spielfilm und verknüpft Erinnerung und Erfahrung in dialektischer Weise.

Die Filmhandlung beginnt an einem Winterabend in Paris. Es ist früh dunkel geworden, die Geschäfte haben noch geöffnet, aber der Feierabend ist nah. Ein Mann steht vor einem Schaufenster und beobachtet eine Frau, die damit beschäftigt ist, aufs Sorgfältigste ein Geschenk einzupacken, dann schlendert er, mit einem Regenschirm in der Hand, weiter die spärlich bevölkerte Straße entlang. Dann versetzt uns ein unvermittelter Schnitt auf eine rote Rose an einen anderen Ort. Die gerade eben noch geschürte Erwartung, es werde eine Geschichte erzählt, weicht dem dokumentarischen Porträt einer Welt der Arbeit und ihrer zermürbenden, hypnotisierenden Rhythmen.

Die Blume

Mit Ausnahme des erwähnten Prologs und des Vorspanns spielt der erste Teil von UNE FLEUR À LA BOUCHE in einem klimatisierten Hangar, dem weltgrößten Blumenumschlagplatz im niederländischen Aalsmeer. Baudélaire filmt die Choreographie des Auswählens, Beschneidens, Verpackens und Verkaufens, den Kreislauf aus manueller und maschineller Arbeit, ausgeführt in grellem Neonlicht. Die energischen, sich wiederholenden Handgriffe täuschen über die Zerbrechlichkeit dessen hinweg, was hier gehandelt wird: Blumen, gezüchtet in und eingeflogen aus Afrika und Südamerika, um hier, auf diesem nüchternen Welthandelsplatz, versteigert zu werden. „Enjoy Life, Love Lilies“ ist auf einer Plastikverpackung zu lesen, während die noch nicht blühenden Exemplare dicht gepackt auf einen Metallwagen geschoben werden. (Einige dürften bei Lilien an Begräbnisse denken, was das Gefühl der Irritation infolge des unerwarteten Ortswechsels möglicherweise noch verstärkt.) Die mit Blumen gefüllten Wagen werden über ein mechanisches Leitsystem durch das Lagerhaus gefahren und prallen am Ende zusammen wie Autoscooter in die Warteposition. Der Widerspruch zwischen Schönheit und Gewalt, der in diesen geisterhaft-kinetischen Bildern aufscheint, stellt einen höchst surrealen und in gewisser Weise komischen Anblick dar.

Die Geräuschkulisse in der Halle erinnert an Kompositionen der Musique concrète, es herrscht zudem ein ständiges Surren, dazu werden faszinierende Gesichter gezeigt, die leicht erschöpft, aber konzentriert die immer gleichen Handgriffen ausführen. Sie sind sich der Präsenz der Kamera bewusst, aber weitgehend unbeeindruckt von ihr. Ab und an verweilt die Kamera auf einem Gesicht, einem Importprodukt oder einer Maschine, dabei werden wiederkehrende Muster erkennbar – von Gesten zu Reihen zu Transportbändern zu der Stimme eines Mannes, der während der Auktion immer wieder die Blumen bei ihrem Namen nennt.

Mit Blick auf den ersten Teil lässt sich UNE FLEUR À LA BOUCHE als ein ästhetisch konsequenter, in ehrwürdiger Tradition stehender Fabrikfilm verstehen, die Ware lebt, aber ihre Tage sind gezählt, was hier aufeinandertrifft, sind überraschende Perspektiven, die einiges von den gegenwärtigen, paradoxen Formen der Ausbeutung eines lebenden, atmenden Planeten erzählen. Nach und nach stellt sich ein wachsendes Gefühl des Unbehagens ein, denn was hier geschieht, geschieht offenbar in einem fort, in einer nicht enden wollenden Wiederholungsschleife, in der die Zeit vielleicht unvermeidbar, ultimativ und traurigerweise von wirtschaftlichen Kräften abhängt. Eine Befürchtung, die nur noch dadurch verstärkt wird, dass sehr viele Menschen während der Pandemie arbeiten und also ihr Leben aufs Spiel setzen sollen, um den Konsumkapitalismus am Laufen zu halten. In unserer krankgewordenen Welt, in der Profite schwerer wiegen als Menschenleben, scheint es kaum etwas Schlimmeres zu geben als die Möglichkeit unterbrochener Lieferketten. Und haben wir nicht alle etwas für Blumen übrig?

Nach Einbruch der Dunkelheit

Zurück auf der „Nachtseite des Lebens“ konzentriert sich UNE FLEUR À LA BOUCHE ganz auf den Mann aus der Eröffnungssequenz, der sich nun, nachdem er aufmerksam beobachtet hat, wie die Ladeninhaber*innen ihre Waren zusammenpacken, in eine Bar in Bahnhofsnähe setzt. Dieser fiktive Beobachter, der mit großer Aufmerksamkeit (und Bewunderung) die sorgfältigen, sich wiederholenden Arbeitshandgriffe beobachtet hat, markiert das Ende der dokumentarischen Aufnahmen und rahmt diese auf überraschende Weise – ein Mittel, das das Pathos des Films verstärkt und seine Einzelteile zusammenhält. Die rätselhafte Figur (eindrucksvoll dargestellt von dem französischen Rapper und Musiker Oxmo Puccino) trifft auf einen schüchternen Fremden (Dali Benssalah) mit großen Augen, der seinen Zug verpasst hat und sich die lange Wartezeit mit Blue Lagoons vertreibt, einem süßen, künstlich aussehenden Cocktail, der hier, in einer bar du coin unweit des Gare de l'Est, völlig fehl am Platz wirkt. Das leuchtende Gehäuse der Bar, die Anmutung des Eingeschlossenseins, all dies ist in höchstem Maße kunstvoll und wird durch die von der Straße herüberwehenden Mandolinenklänge – ein Zitat aus Pirandellos Stück, das im zweiten Teil des Films frei adaptiert wird – noch verstärkt.

Baudelaire erzählt von einer nächtlichen Begegnung zwischen zwei Männern – während die Tage des einen gezählt sind, hat der andere sein Leben noch vor sich

Der zweite Teil, der von den beiden Darstellern geprägt ist, bleibt mit seinen fortlaufenden Monologen der dramatischen Vorlage weitgehend treu. Der Protagonist, ein überdurchschnittlich auffassungs- sowie wahrnehmungsbegabter Menschenkenner, ist so redselig wie liebenswürdig und scheint sich nach einer Art Wahlverwandtschaft zu sehnen. Seine beinah unersättliche Neugier und sein Mitteilungsbedürfnis gehen auf seinen Zustand zurück – die titelgebende Blume im Mund. In Pirandellos Stück, das nach der Spanischen Grippe entstanden ist, steht die Blume für ein sogenanntes Epitheliom, einen unheilbaren Tumor. Das Gespenst des bevorstehenden Todes ändert das Verhältnis des Mannes zu den Vorgängen des Lebens um ihn herum. Die nächtliche Begegnung zwischen einem Mann, dessen Tage gezählt sind, und einem Mann, der das Leben noch vor sich zu haben scheint, schwankt zwischen Nähe und Distanz. Baudelaires Film ist eine Studie voller Gegensätze und voller Trauer angesichts der Wunder der Welt, die vergehen werden.

UNE FLEUR À LA BOUCHE ist eine Meditation über Krankheit und Tod genauso wie über die Möglichkeiten des Lebens und menschliche Verantwortung. In einer Welt, in der nichts so ist, wie es scheint, in der ständig wechselnde Wahrnehmungen unseren Sinn für Gewissheit ins Wanken bringen, finden Konzept und Inhalt des Films einen Widerhall, ganz ohne sentimentale „Man lebt nur einmal“-Appelle.  Baudelaire hat für diesen Film einmal mehr mit der Cutterin Claire Atherton und der Kamerfrau Claire Mathon zusammengearbeitet, die beide bereits an UN FILM DRAMATIQUE (2019) und ALSO KNOWN AS JIHADI (2017) mitwirkten. Wieder experimentiert Baudelaire mit seinem filmischen Ansatz und erweitert ihn, indem er die Grenze zwischen subjektiven und „objektiven“ Perspektiven zunehmend verwischt. Der Film weist durchgehend elegante Symmetrien auf, die qua Dissonanz clever ästhetische Kohärenz erzeugen und wagt es, verschiedene Metaphern zu verbinden. Rosen sind manchmal rot, und Veilchen sind manchmal blaue Lagunen.

Andréa Picard ist Kuratorin und Autorin sowie Senior Film Programmer für das Toronto International Film Festival.

Übersetzung: Gregor Runge

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