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Barbara Wurm: Narges und Afsun, herzlich willkommen – was für eine tolle Kombination für unser Interview! Narges, ich freue mich sehr, dass wir SHAHID, dein Spielfilmdebüt, im Forum-Line-Up haben, ein unheimlich wuchtiger, kreativer Film, der extrem begeistert und doch gleichzeitig nachdenklich macht. Afsun, ich freue mich, dass du für das Forum sichtest und berätst und nun auch das Gespräch mit Narges führen wirst – auf Deutsch und damit verdeutlichend, wie selbstverständlich polyglott und interkulturell der postmigrantische deutsch-iranische Alltag ist. Vielen Dank euch beiden.

Afsun Moshiry: Liebe Narges, es ist etwas ungewöhnlich, mit dir auf Deutsch zu sprechen, da wir beide Iranerinnen sind. Eine Art Übersetzung unserer eigentlichen Ausdrucksweise. Das ändert die Perspektive – und mit Perspektiven spielst du auch im Film SHAHID. Es gibt viele Details, die deinen persönlichen, hybriden Film spannend machen. Die Aufarbeitung deiner Familiengeschichte und deines Lebens in Deutschland ist ein Thema, das zwischenmenschliche und interkulturelle Differenzen aufwirft. Stimmst du zu, dass wir viele Aspekte der iranischen Kultur und Erziehung internalisiert haben? Das beeinflusst unser Leben, egal ob wir in der Heimat leben oder nicht.

Narges Kalhor: Danke, liebe Afsun. Das ist ein wahnsinnig interessantes Thema, das du hier ansprichst. Ich gebe dir recht. Die systematische Ungerechtigkeit im Iran hat einen Einfluss auf unser Verhalten. Die Folgen begleiten uns, im Iran wie im Ausland. Unser Selbstwertgefühl ist beeinträchtigt, wenn wir den Iran als Migrant*innen verlassen. Ein Gefühl von Glück auf der einen Seite und ein massives Schuldgefühl auf der anderen. Im Ausland und in der westlichen Kultur sind wir direkt mit einer anderen Art der Ungerechtigkeit konfrontiert. Hier sind es die Unterscheidungen zwischen „guten“ und „schlechten“ Refugees. So geht es der Regisseurin Narges Shahid Kalhor als Refugee besser als der Schauspielerin im Film, der das Leben im Ausland schwerfällt. Ich habe mich entschieden, diese Realitäten „roh“ zu belassen und mich teilweise selbst als Antagonistin im Film zu zeigen. Dabei versuche ich darzustellen, dass wir in einem Teufelskreis sind, der uns immer wieder aufs Neue zu Tätern und Opfern macht. Das versuche ich durch meine eigene Biografie zu reflektieren. So ändern sich die Perspektiven stetig. Für die „weiße“, privilegierte Gesellschaft sind wir Menschen aus dem Nahen Osten und innerhalb der eigenen Gesellschaft haben wir ganz eigene Hierarchien.

AM: Es ist dir gelungen, dieses Spiel mit Perspektiven detailliert in deinen Film einzubauen. Du dirigierst die Schauspielerin, die dich spielt. Und es gibt einen Bruch-Moment, in dem du selbst vor die Kamera trittst. Was bedeutet dieser Moment in der Gesamtstruktur?

NK: Als wir in der Drehbuchphase waren, habe ich zufällig jemanden in der U-Bahn getroffen, den ich vor 14 Jahren im Zirndorfer Asylheim kennengelernt hatte. Er sprach mich an, ich blickte zu ihm auf und merkte, dass er die Erfahrung der Migration und des Asylheims nicht verarbeitet hatte. Diese Begegnung ist mir nachgegangen. Ich sprach mit Aydin Alinejadsomeeh, meinem Co-Autor, und sagte, ich kann diese Geschichte nicht erzählen, ohne mich selbst vor die Kamera zu trauen. Es fehlte mir zunächst der Mut. Doch mein Gesicht zu zeigen, soll mich nicht nur als ehrliche Narges darstellen, die sich ganz entblößt, es soll auch die Verletzlichkeit und das Leiden nach der Flucht zeigen und dass es einem auch nach 14 Jahren nicht gut geht.

Ich habe gelernt, dass ich über meine eigene Reflexion noch eine weitere Ebene erzeugen kann

AM: Deine Verletzlichkeit kommt auch zum Teil aus deiner Familiengeschichte: der Name Shahid, den du im Film ablegen möchtest, die Musik und das Performative, die illustre Darstellung deiner Familiengeschichte – das alles kommt mit einer Leichtigkeit daher, und doch ist es für dich eine große Belastung.

NK: Ja, total. Ich bin seit 2009 hier in Deutschland. 2010 habe ich an der Filmhochschule in München angefangen und bis heute habe ich nur Filme über mich selbst gemacht. Bis IN THE NAME OF SCHEHERAZADE, meinem vorigen Film, wollte ich Mitleid vom Publikum. Ich wollte, dass es weh tut. Nun habe ich mich in meiner Filmsprache und der essayistischen Form weiterentwickelt. Ich habe gelernt, dass ich über meine eigene Reflexion noch eine weitere Ebene erzeugen kann, die inszeniert ist, zum Beispiel in Form einer Performance, wie in SHAHID. In einer Szene weine ich, mittendrin gibt es einen Schnitt. Das ist der Moment, in dem ich mich vom Mitleid anderer verabschiede. Ich brauche es nicht mehr. Diese Ebene des Weinens und Schreiens ist vorbei. Menschen wie ich wollen ernst genommen und als eigenständige Figuren in der Gesellschaft gesehen werden. Mein Urgroßvater wurde als wichtige Persönlichkeit der iranischen Geschichte wahrgenommen. Das belastet mich. Genaugenommen trage ich den Nachnamen eines Mannes, vor dem ich geflohen bin. Diese Last symbolisiere ich im Film durch die Streichung von „Shahid“ aus meinem Namen. Ich würde die Geschichte gern weiter umschreiben – von der Geschichte der Männer zur Geschichte von Narges – und damit auch den Blick auf die Vergangenheit verändern.

AM: Ich verstehe deinen Wunsch nach dieser Transformation absolut, und was es emotional bedeutet. Die Wurzeln anzuerkennen, aber auch eine neue Bedeutung hinzuzufügen. Es ist nicht nur ein Name, sondern ein Prozess und Kraftakt. Erzähl uns etwas über die „Geschichte der Männer“ und die Bedeutung des Namens „Shahid“ – auch für dich.

NK: Die ästhetische Umsetzung der Vätergenerationen als „großer Schatten der Vergangenheit“ entspricht meiner Sicht auf meine Wurzeln. Jeder hat Geschichten rund um die eigene Herkunft. Manche sind stolz, manche nicht. Ich bin nicht stolz drauf. Die Figur „Herr Ribbentrop“ sagt richtigerweise im Film, dass man keinen Einfluss auf seine Herkunft hat. Der Name Shahid ist aber auch der Grund, warum meine Filme auf Menschenrechtsfestival laufen, warum ich den Wunsch hatte, mit der Kamera meine Geschichten zu erzählen. Würde ich anders heißen, wäre auch meine Geschichte anders. Ich habe seit Jahren keinen Kontakt zu meinem Vater. Er wünscht auch keinen Kontakt. Ich war die unverheiratete Narges, die einen Asylantrag gestellt hat. Mein Asylantrag wurde von Nachrichtenagenturen begleitet, sie haben über meine Geschichte berichtet. Das hat mir aber auch geholfen, ich hätte sonst nie innerhalb von drei Monaten Asyl gewährt bekommen. Dieser Nachname bringt Unglück, aber auch Glück. Ein zweischneidiges Schwert. Als Frau sind wir nichts wert vor dem Gesetz im Iran, daher ist das Sich-Abheben von den Männern und ihren Namen ein wichtiger Prozess für mich.

Ich lebe seit 14 Jahren hier in Deutschland mit einem Mann, der nicht aus dem Iran stammt, und einem in Deutschland geborenen Kind. Ich bin nicht in den Iran zurückgekehrt, trotzdem beeinflusst das Geschehen im Iran mein Leben und ich muss mich politisch dazu positionieren. Daher ist es mir wichtig, diesen Prozess in Form von Filmen zu dokumentieren. Es ist eine Art Statement. Ich habe wegen meines Nachnamens jahrelang Therapie gemacht. Es gibt kaum Menschen, die sagen würden, dass sie ihre Eltern hassen und ihre Wurzeln nicht anerkennen. Es ist für mich schmerzhaft, ich fühle mich wie ein Embryo, ohne Schutzraum, es ist eine grenzwertige Erfahrung. Deshalb ist auch die Therapie in den Film integriert. Es hat viele Jahre Therapie gebraucht, bis ich dazu fähig war, heute diesen Film zu machen.

Mir ging es darum, eine Frau darzustellen, die mit einer schweren Last hier in Deutschland bestimmte Hürden zu bewältigen hat

AM: Die Bürde wird nicht leichter und die andauernde Selbstzensur ist eine Folgeerscheinung. Du hast eine eigene Filmsprache gefunden, in der es dir spielerisch gelingt, die Selbstzensur abzulegen. Wie hast du diese Filmsprache entwickelt?

NK: Ich habe zu Aydin, meinem Co-Autor, und Heiner Stadler, dem Dramaturgen, gesagt: In den alten iranischen Mythen bringen die Väter ihre Söhne um, in der westlichen Geschichte ist es oftmals andersherum, die Söhne bringen die Väter um. Was ist, wenn wir die Geschichte umschreiben, so dass es nun die Töchter sind, die sich gegen die Männer in ihrer Familie erheben und Widerstand leisten. Aber dadurch, dass es ein Teufelskreis ist und der Widerstand zur Routine wird, kommt es zu keinem Ende. So haben wir die „Schatten der Vergangenheit“ im Film entwickelt. Die haben wir als Grundidee beibehalten, und die ziehen sich durch den Film hindurch. Wir hatten nicht genug Budget, um den Film komplett fiktional zu drehen. Wir wurden als Dokumentarfilm gefördert, ich wollte aber nicht meine Autobiografie als Dokumentarfilm drehen. Dann kam die Idee, mich von jemandem verkörpern zu lassen. Mir ging es darum, eine Frau darzustellen, die mit einer schweren Last hier in Deutschland bestimmte Hürden zu bewältigen hat. Ich habe Baharak Abdolifard in Österreich getroffen und habe ihre Migrationsgeschichte mitbekommen, die mich an meine eigene erinnert hat. Jede Biografie ist aber letztlich anders. Diese Unterschiede wollte ich auch im Film respektieren. Sie wartet noch immer auf ihre österreichische Staatsangehörigkeit. Doch es gibt einen gemeinsamen Nenner: Wir wollen nicht mehr Opfer sein. Mir war es wichtig, die Gemeinsamkeit und die Unterschiede in der Dramaturgie des Films aufzuzeigen.

AM: Ein befreundeter Philosoph sagte mal zu mir, dass man als Opfer nicht radikal genug sein kann. Während der Protestbewegung im Iran und der bewundernswerten Stellungnahme der Frauen in dem langwierigen Kampf, habe ich mich gerne gerne an diesen Satz erinnert. Es braucht auch Mut und Radikalität, um einer transnationalen Biografie gerecht zu werden. Als Künstlerin, die immigriert ist, ist es schwierig, in Deutschland zu kritisieren. Früher war es umso schwieriger, erinnern wir uns an einen Filmemacher wie Sohrab Shahid Saless, der 1974 mit einer bestimmten Vorstellung nach Deutschland kam und dann mit der bitteren Realität konfrontiert war – was es damals bedeutete, in Deutschland Kritik zu üben. Dieses Thema ist immer noch aktuell, obwohl sich die Strukturen eigentlich verbessert haben.

NK: Die Aussage, als Opfer sei man nicht radikal genug, finde ich interessant. Als Opfer hat man aber auch nichts mehr zu verlieren. Wenn man nichts zu verlieren hat, ist man ziemlich radikal. Bei IN THE NAME OF SCHEHERAZADE war Aydin schon an meiner Seite und ich bekam gerade ein Kind. Niemand wollte meine Filme produzieren. Man empfahl mir, exotische, orientalische Filme zu machen, Filme, wie man sie von Geflüchteten erwartet. Ich habe mich dagegen gewehrt und dann auch auf meine eigene Art und Weise damit abgeschlossen und daraus etwas entwickelt, das diese Erwartung auch im Film thematisiert. Damit traf ich den Nerv der Zeit und das Publikum hat den Film gut angenommen. Mich interessiert nicht, im künstlerischen Bereich „Red-Carpet-Filme“ zu machen und den Anforderungen von Fernsehredaktionen zu entsprechen. Mich interessiert, eine eigene Sprache zu entwickeln, die etwas bei den Zuschauer*innen freisetzt.

Keiner Norm zu entsprechen war auch Teil des Produktionsprozesses bei SHAHID. „Was soll das für ein Film werden?“, fragte man mich. „Ein Musical?“ Nur mit der Haltung, nichts zu verlieren zu haben, gelang es mir auch in Bayern, das ziemlich konservativ operiert, bestimmte Normen zu durchbrechen und die Förderer zu ermutigen, mit mir neue Ansätze zu finden. München ist offen und multikulti, trotzdem werden Filme hier noch anders besprochen und verhandelt. Dann kommt da so eine Iranerin, lost in translation, und es gilt, eigene Wege zu finden. Ich bin ein anderer Mensch, wenn ich Farsi spreche und schreibe. Meine Drehbücher schreibe ich auf Deutsch. Das allein ist schon eine Übersetzung, die die Darstellung, die Ästhetik meines Seins verändert. Es ist wichtig und gut, dass es diese vielschichtigen Übersetzungen von Geschichten in diesem Land gibt, das Schreiben auf Deutsch, nur über diese Vielfalt können wir mit der Zeit die Strukturen verändern.

Dieser Film ist wahrscheinlich einer der wenigen, die eine Chance bekommen haben, obwohl das Drehbuch komplex ist

AM: Dennoch ist dir gelungen, „Das kleine Fernsehspiel“ des ZDF als Förderer zu gewinnen, und du würdigst auch deine Crew, indem du sie offen im Film zeigst. Warum war dir die Perspektive hinter der Kamera wichtig?

NK: Ich schneide auch die Filme anderer Regisseur*innen, normalerweise werden darin die Szenen weggeschnitten, in denen zufällig die Kamera läuft oder in denen etwas schiefläuft. Diese Momente haben aber eine ganz eigene Dynamik und Präsenz. Die Perspektive hinter der Kamera ist für mich eine sehr spannende. Ich wollte dieser besonderen Präsenz Raum in meinem Film geben, dem echten Leben, das wir eigentlich vermissen. Meiner Meinung nach braucht es neue Ansätze und Narrative. Es ist so schwierig, diese Art Filme zu finanzieren. Es wird immer weniger mutig finanziert. Dieser Film ist wahrscheinlich einer der wenigen, die eine Chance bekommen haben, obwohl das Drehbuch komplex ist. „Das kleine Fernsehspiel“ hat mir Vertrauen geschenkt und uns gefördert. Das war eine hervorragende Crew, wir haben in den Bavaria Studios gedreht, mir waren diese „anderen“ Momente hinter der Kamera wichtig und ich wollte ihnen einen Platz im Film geben.

AM: Narges, wir freuen uns, deinen Film bald mit dem Publikum teilen zu können. Vielen Dank für deinen Mut, diesen Film zu machen!

NK: Danke! Es bedeutet mir viel, dass wir den Film bei der Premiere gemeinsam sehen werden. Ich bin sehr aufgeregt und freue mich, dass unsere Kostümdesignerin nach Deutschland kommen kann. Bis zur Premiere sind wir noch an letzten Feinheiten dran. Der Sound ist gut. Die Musik von Marja Burchard. Ich freue mich wahnsinnig.

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