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Ali Essafi ist Dokumentarfilmemacher und Videokünstler. Nach seiner Begegnung mit Ahmed Bouanani machte er es sich zum Ziel, dessen Werk einer größeren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Sein Film OBOUR AL BAB ASSABEA (CROSSING THE SEVENTH GATE) über Ahmed Bouanani ist Teil des Programms „Autour de Bouanani – Another Moroccan Cinema”, das sich dem marokkanischen Regisseur und seinem Vermächtnis widmet.
 

„Ein Film, der nicht notwendig ist, der nicht zutiefst in unserer Realität verankert ist, interessiert mich nicht“

Seit meiner Rückkehr nach Marokko im Jahr 2004 war ich bestrebt, Ahmed Bouanani und seine Filme näher kennenzulernen. Während meiner Studienzeit im Westen habe ich vor allem eine Lektion gelernt: Wie sehr künstlerisches Schaffen sowohl mit der Entwicklung der künstlerischen Produktion von Generation zu Generation verbunden ist als auch mit ihrer Vermittlung. Als ich mich fragte, was meinen künstlerischen Werdegang geprägt hat, rangierten AL-SARAB (THE MIRAGE) und WECHMA (TRACES) ganz oben im Pantheon der nationalen Kinematografie. Ich hatte meinen Schatz gefunden!

Viel später, als ich diese Filme endlich zu sehen bekam, habe ich mich natürlich in den Helden von TARFAYA AW MASSEERAT SHA’ER (TARFAYA OU LA MARCHE D’UN POÈTE) und AL-MANABE’ AL-ARBA‘A (LES QUATRE SOURCES) und ihrer Suche nach dem Schlüssel zur „Siebten Tür“ wiedererkannt. Aber wider Erwarten erwies sich meine Suche nach Bouanani als nahezu unmögliche Mission. Zu der Zeit, als ich nach Marokko zurückkehrte, hatte er sich bereits nach Aït Oumghar zurückgezogen, einem kleinen Ort im Hohen Atlasgebirge. Die Kollegen, bei denen ich mich nach ihm erkundigte, rieten mir höflich davon ab, ihn zu treffen. Ihre Argumente gingen wild durcheinander: „Sein Gesundheitszustand ist sehr schlecht! Er ringt mit dem Tode! Er ist mies drauf und erträgt niemanden um sich herum! Er säuft von früh bis spät! Er hat sich in ein verlorenes Kaff zurückgezogen und niemand weiß welches genau! ...“

Bei meiner Internetrecherche fand ich nur einige ungenaue, unvollständige und widersprüchliche Filmografien. Und es gab nicht ein einziges Porträtfoto von ihm. Die wenigen Presseausschnitte, die ihn betrafen, waren mit dem Foto eines Namensvetters bebildert, der im staatlichen Fernsehen moderiert. Das erste Bild, das später im Netz veröffentlicht wurde, war das, das ich selbst der Presse zur Verfügung gestellt hatte, um seinen Tod bekanntzugeben!

Was sein schriftstellerisches Werk angeht, besaß eine einzige Buchhandlung in Casablanca noch einige Exemplare seiner Erzählung „L’Hôpital“. Ahmed Bouanani und sein Werk waren buchstäblich von der Bildfläche verschwunden. Man war langsam aber sicher dabei, ihn aus dem kollektiven Gedächtnis zu löschen. Dieses verdammte „Gedächtnis“, um das sein ganzes Tun kreiste und das zugleich die Hauptursache seiner Missgeschicke war. Statt mich zu entmutigen, hat dieses „geplante Verschwinden“ meine Neugier eher angestachelt.

Zwischenzeitlich war es mir gelungen, THAKIRAH ARBA’AT ‘ASHAR (MÉMOIRE 14) zu sehen sowie SITTA WA THANIAT ‘ASHAR (SIX ET DOUZE), Filme, die ich nicht kannte, wie die meisten meiner und der nachfolgenden Generation. Sie haben mich aufgewühlt, Wut aber auch Stolz in mir ausgelöst. Und bestimmte Fragen, die ich mir bis heute stelle.

Warum wurde mir und meinesgleichen der Zugang zu einem so bedeutenden Werk verwehrt? Hätte ich den gleichen Weg eingeschlagen, wenn ich das Werk Bouananis schon im Alter von 20 Jahren gekannt hätte?

2007 entschloss sich ein kleines Festival in Rabat, ihn mit einer Werkschau zu würdigen. Und ich konnte ihn endlich treffen! Sein Körper glich einem Gespenst aber sein Geist wirkte wach und die Gesten seine Hände waren elegant. Bouananis Blick war jung geblieben, durchdringend, sein Gedächtnis auf wunderbare Weise intakt! Er hatte keinerlei Probleme damit, mir aufzuzählen –nicht ohne Ironie – wie oft man ihn schon für tot erklärt hatte. Gleich am Tag nach unserer ersten Bekanntschaft wurde ich Zeuge solch einer makaberen Episode. Ich begegnete Bouanani in Begleitung des Leiters des „Festival des Trois Continents“ in Nantes im Aufzug. Nachdem ich sie miteinander bekannt  gemacht hatte, schaute er Bouanani beunruhigt an und stammelte: „Sie leben noch?“ Statt einer Antwort bedachte ihn Bouanani mit einem boshaften Lächeln. Ein Jahr zuvor hatte das „Festival des Trois Continents“ eine breite Auswahl der besten marokkanischen Filme gezeigt. Man hatte Bouanani eingeladen, THE MIRAGE zu zeigen. Vergebens!

Entgegen allem Gerede hatte ich keine Probleme, in die einsamen Gemächer dieser „medersa bouanania li cinema al maghrabia“ (Bouanani-Schule des maghrebinischen Kinos) eingelassen zu werden. Dass wir ähnliche filmische Vorlieben hatten, trug sicher dazu bei. Aber meinen privilegierten Status, der mir erlaubte, bis zu seinem Tod in der Nähe des Meisters zu bleiben, verdanke ich meinen literarischen Neigungen. Wir hatten beide eine lange Liste von berühmten Schriftstellern, deren Romane wir nicht bis zu Ende gelesen hatten, auch wenn dies nicht den Trends und Regeln des Buchmarkts entsprach. Ganz oben auf der Liste standen Tahar Ben Jelloun und ein gewisser Graham Greene.

Dagegen hatten wir beide eine besondere Liebe zu großen Autoren entwickelt, die nur einen Roman hinterlassen haben. Während ich darauf wartete, ihm eine Ausgabe von „A Confederacy of Dunces“ von John K. Toole zu besorgen, bot ich ihm „Pedro Párama“, mein Lieblingsbuch aus dieser Kategorie an. Auf dieses Meisterwerk des Mexikaners Juan Rulfo geht die Schule des lateinamerikanischen Magischen Realismus zurück. Aus unerfindlichen Gründen ist es der marokkanischen Leserschaft vorenthalten geblieben. Ich brannte darauf zu sehen, wie ein Autor vom Format Bouananis, der selbst ein passionierter Leser war, darauf reagieren würde. Bei meinem nächsten Besuch las er mir, mit seiner schönen Erzählerstimme , enthusiastisch die ersten beiden Seiten vor. Er wollte mir zeigen, dass einige Absätze reichen, um einen großen Roman zu erkennen. Seither hatte Juan Rulfo seinen Platz immer ganz oben auf den Bücherstapeln, die er neben sich aufhäufte. Bei jedem meiner Besuche erinnerte Bouanani mich daran, dass er den „kleinen Roman“ stets in Reichweite hatte.

Gelobt sei Juan Rulfo, dieser berühmte Unbekannte, der unsere Komplizenschaft besiegelte. Gelobt sei Juan Rulfo, dieser berühmte Unbekannte, der unsere Freundschaft besiegelte. Dank dieser Freundschaft, dank auch der Unterstützung von Naïma Saoudi Bouanani und ihrer gemeinsamen Tochter Touda ist es mir gelungen, eine Reihe von Interviews mit ihm zu führen, aus denen ein Film entstehen sollte. Der folgende Abriss seines filmischen Werdegangs ist diesen Gesprächen entnommen.

Alles beginnt Anfang der 1960er Jahre. Marokko ist erst seit Kurzem unabhängig, aber es wird schnell von Machtkämpfen und den Kräfteverhältnissen des Kalten Krieges erfasst. Die Stimmung in dem Land, in das Bouanani nach drei Jahren Ausbildung in Frankreich, den Kopf voller Pläne und Träume 1963 zurückkehrt, ist explosiv. Der junge Absolvent der Pariser Filmhochschule IDHEC (Institut des hautes études cinématographiques) hat keine andere Wahl, als sich dem Centre Cinématographique Marocain (CCM) anzuschließen, der einzigen Institution, die damals Filme produziert. Aber was für Filme werden dort produziert?

Das kleine Büro des CCM unterstand dem Palast, es wurde direkt vom Innenministerium kontrolliert. Hier entstanden keine Kinofilme, sondern Wochenschauen, die als Vorfilme in den Kinos liefen und hauptsächlich Aktivitäten der Regierung und des Königshauses zum Inhalt hatten. Für die künstlerischen Ambitionen eines Bouanani ist dort überhaupt kein Platz. Man engagiert ihn als Chefcutter. Von Beginn an wird er überwacht, weil der Direktor des IDHEC in einem Bericht erwähnt hatte, dass Bouanani in Frankreich mit anarcho-trotzkistischen Kollegen verkehrt hat. Er wird sofort als Kommunist abgestempelt. Dass er sich in seiner Abschlussarbeit mit Andrzej Wajdas Film „Pokolenie“ (Eine Generation) beschäftigt hat, der noch im kommunistischen Polen entstanden ist, trägt auch nicht dazu bei, den Verdacht zu zerstreuen. Dabei hat Bouanani nie einer politischen Bewegung oder Partei angehört. Im Gegenteil, er hat eigentlich bis zu seinem Lebensende alles, was mit Politik und Politikern egal welcher Couleur, zu tun hatte, verachtet.

Bouanani interessierte sich nur für die Erinnerung – seine, die seiner Familie und die seines Landes. Dieses Interesse war weder zufällig noch intellektueller Natur. Das Drama der Kolonisierung hatte seine persönliche Geschichte unauslöschlich geprägt. Sein Vater, ein Polizist, war in einem nie aufgeklärten Vergeltungsakt in den letzten Momenten der Kolonialherrschaft ermordet worden. Das Drama fand unweit des Hauses der Familie statt, fast vor den Augen von Ahmed Bouanani, der damals 16 Jahre alt war.  Er hat den Mord nicht mit angesehen, aber traf kurz darauf am Tatort ein. Seitdem „hatte der Tod ein langes Gedächtnis“. Er hat die „Blutflecken auf dem Bürgersteig“ nie vergessen können, angesichts derer sich seine „Fahrradträume“ für immer verflüchtigt haben. Bis zu seinem Lebensende hat er dieses Drama bei jeder unserer Begegnungen erwähnt.

Darüber hinaus ist Bouananis Interesse für die Erinnerung sicherlich generationsspezifisch. Er war sich bewusst, dass er einer Zwischengeneration angehörte, die gleichzeitig aus Erben des dem Untergang geweihten Marokko ihrer Vorfahren und engagierten Zeugen und Mitgestaltern des schmerzhaften Übergangsprozesses in die Moderne bestand.

Im CCM stoßen sich seine Ideen und sein rebellischer Geist an der Ignoranz der Zensoren. Als 1966 das nationale Fernsehen startet, bekommt das CCM die Aufgabe, das Programm zu gestalten. Bouanani nutzte diese Auftragsarbeiten um  seine persönlichen Projekte zu realisieren, die nicht länger warten konnten. TARFAYA OU LA MARCHE D’UN POÈTE ist besonders charakteristisch für seine Art des subversiven Arbeitens. Offiziell handelt es sich um einen Film über die Bauvorhaben in der Stadt Tarfaya, die eben erst aus der spanischen Kolonialherrschaft entlassen worden ist. Bouanani realisiert diesen Auftrag in seiner eigenen poetischen Herangehensweise, fast wie ein Manifest. Die Geschichte Tarfayas wird als Initiationsreise eine jungen Dichters erzählt, der sich auf die Suche nach einem spirituellen Meister der Antike begibt.

Direkt nach seiner Rückkehr nach Marokko, noch bevor Bouanani im CCM anfing, hatte ihn Madame Aherdane vom „Festival des Arts populaires“ in Marrakesch mit einer Arbeit beauftragt. Dieser „Job“ gestattete ihm, kreuz und quer durch das Land zu ziehen, zu zeichnen, zu fotografieren, vor allem aber die mündliche Überlieferung der Volkskunst aufzuzeichnen, bevor diese völlig zu Folklore werden sollte. Er begeisterte sich dabei besonders für die Gesänge eines legendären Berber-Sängers namens Sidi Hammou. Die Suche nach diesem berühmten Dichter des 16. Jahrhunderts liegt als Parabel dem Film über Tarfaya zugrunde.

Man sollte an dieser Stelle unterstreichen, dass bei fast jedem der filmischen Projekte Bouananis ein Gedicht der Ausgangspunkt war, manchmal noch begleitet von Zeichnungen, bevor sie sich in einen Roman oder ein Drehbuch verwandelten. Dieser erste „Piratenversuch“ stört niemanden. Aber Bouanani ist natürlich nicht zufrieden mit sich. Er hat mir später anvertraut, dass man, wenn man die Sequenzen, die mit dem offiziellen Auftrag zu tun haben, herausschneidet, seinen Film TARFAYA OU LA MARCHE D’UN POÈTE erhält. „Das war nicht wirklich befriedigend, aber immerhin etwas zu einer Zeit, in der es sonst keine Produktionsmöglichkeiten gab.“

Die wirklichen Probleme beginnen 1967, als im CCM ein neuer Direktor anfängt. Von Anfang an betrachtet er Bouanani als subversives Element, das man in seine Grenzen verweisen muss. Schon bald wird er in den Archivkeller verbannt, wo er nur Schnittarbeiten ausführen darf. Was in den Augen der Leitung als Strafe gemeint ist, stellt sich als unverhoffter Glücksfall für ihn heraus.  Bouanani interessiert sich schon lange für Archive. Er sichtet und ordnet alles, was die Franzosen an Material hinterlassen haben, öffentliches wie privates. Um das Drehverbot zu umgehen, beginnt er heimlich an einem Film zu arbeiten, der ausschließlich mit Archivmaterial die Geschichte des zeitgenössischen Marokko erzählen soll, von Anfang bis Ende der Kolonialzeit. Ein dokumentarischer Langfilm, nach einem Gedicht mit dem gleichlautenden Titel MÉMOIRE 14, das später in „Les Persiennes“ veröffentlicht werden sollte.

In der Zwischenzeit nutzt Bouanani die verschiedensten Möglichkeiten, sein Drehverbot zu umgehen. 1968 gelingt es ihm, SIX ET DOUZE zu drehen, mit Hilfe zweier Techniker, die im selben Jahrgang mit ihm auf der IDHEC waren. Mit ihrer Hilfe war auch TARFAYA OU LA MARCHE D’UN POÈTE entstanden. Im Abspann zeichnen sie für die Regie verantwortlich, während Bouanani als Cutter genannt wird. Entgegen den Gepflogenheiten stellt Bouanani seinen Namen als Cutter dem der Regisseure voran – so wischt man dem Zensor einen aus. Im Anhang seiner „Geschichte des Films in Marokko“ schreibt er: „Ein Abspann wird im Kino am wenigsten gelesen, erst recht in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung nicht lesen kann.“

SIX ET DOUZE ist ein 18 Minuten langer schwarzweißer Essayfilm. Er sollte zeigen, wie sich Licht und Bewegung in Casablanca zwischen 6 und 12 Uhr verändern. Ein Film ohne Kommentar oder Voice-over, ein direkter Nachfahre von Dsiga Wertows „Der Mann mit der Kamera“. Es ist das, was man einen Montagefilm nennt, eine Kompilation aus bereits existierenden Filmen. Aber die Tonebene ist großartig. Bouanani ist einer der wenigen marokkanischen Regisseure, die den Ton wirklich ernst genommen haben. Er hat mir erzählt, dass er seine ganze Energie und Kreativität auf den Ton konzentriert hat, nachdem er einmal begriffen hatte, dass die Zensur darauf überhaupt nicht achtete, weil sie sich aufs Bild versteift hatte. In seiner „Geschichte des Films in Marokko“ berichtet Bouanani mehr über die Entstehung und die Grenzen dieser vermeintlich kollektiven Arbeit. Seine Kritik ist gerecht und würdigt die Umstände. Letztendlich ist SIX ET DOUZE ein einzigartiges Zeitdokument, welches das Leben in Casablanca im Jahr 1968 zeigt.

In der Umbruchsstimmung des Jahres 1970 beschließt Bouanani, zusammen mit drei jungen Kollegen, sich der Bevormundung durch das CCM zu entziehen. Sie gründen das erste unabhängige Filmkollektiv: Sigma 3. Mit einigen tausend Dirham und nur einem Auto drehen sie TRACES, der bis heute als das Meisterwerk des marokkanischen Kinos gilt.  Kaum war die Kollektivarbeit vollbracht, sicherte sich eines der Mitglieder die alleinigen Rechte und das Sigma3-Kollektiv zerbrach. Im Abspann wird Bouanani als Cutter aufgeführt, obwohl seine Handschrift ganz offensichtlich ist – heute noch mehr als früher. Bis zehn Jahre später THE MIRAGE entstand, den Bouanani endlich offiziell drehen durfte, konnte kein anderer Film mit TRACES mithalten.

Trotz vieler Enttäuschungen gibt Bouanani nicht auf. Über die Jahre arbeitet er unermüdlich am Schnitt von MÉMOIRE 14. 1971 stellt er eine 108-Minuten-Version fertig. Nach der internen Vorführung lehnt der Direktor des CCM den Film ab und beschlagnahmt sofort alles Archivmaterial, das mit dem Rif-Krieg zu tun hat. Bouanani schneidet verschiedene neue Versionen, aber jedes Mal fällt ein weiterer Teil der Schere des Zensors zum Opfer. Am Ende bleiben von MÉMOIRE 14 24 Minuten. Der Direktor des CCM will nichts mehr von diesem Film hören. Er droht sogar an, den Rest zu zerstören und den Regisseur rauszuschmeißen, wenn dieser sich nicht seine langen Haare schneidet!

Bouanani verdankt seine Rettung und die Rettung dessen, was von seinem Film geblieben ist, dem Zufall eines größeren politischen Ereignisses. Bevor er seine Drohungen wahrmachen kann, wird der Direktor im Juli 1971 zum Geburtstag des Königs eingeladen. Dort kommt er mit anderen bei dem blutigen Putschversuch gegen König Hassan II. in Skhirat ums Leben. Und wieder einmal hat die kleine Geschichte Bouananis die große eingeholt.

Die verbliebenen 24 Minuten von MÉMOIRE 14 tragen die Narben und Spuren des Gemetzels. Ganze Teile der Geschichte Marokkos wurden herausgeschnitten, was zu riesigen Lücken in der Erzählstruktur führte. Das zensierte Archivmaterial ist vernichtet worden. Und damit auch die mühevolle Arbeit, die Bouanani auf den Ton verwendet hat. Aber nichts davon hat die künstlerische Qualität und Originalität dieser Arbeit beeinträchtigen können. Bouanani verwendet und verwandelt das Material der Kolonialarchive und lässt daraus eine andere – poetische – Version der Geschichte entstehen. Meines Wissens ist es das erste Mal, dass ein Künstler aus einem kolonisierten Land zu einem solchen Akt der Piraterie schreitet.

Mit dem Direktorenwechsel am CCM lockert sich die Zensur zumindest ein wenig. Bouanani beginnt 1972 ein Projekt, das wie eine Fortsetzung von TARFAYA OU LA MARCHE D’UN POÈTE klingt. „Sidi Ahmed Ou Moussa“ ist ein fiktiver Dokumentarfilm, der den Werdegang dieses spirituellen Meisters aus dem 15. Jahrhundert erzählt. Sidi Ahmed Ou Moussa, war ein Theologe und Sufi-Dichter, der sich unwillentlich in einen Kriegsherrn verwandelte und gegen die Kolonisierung der marokkanischen Küste durch die Portugiesen zu Felde zog. Nach der Befreiung dieses Territoriums verweigerte er jede Form der Machtausübung. Er kehrte in sein Kloster zurück, um sein Studium, seinen Unterricht und seine Versenkung fortzusetzen. Der Film wurde im Süden des Landes gedreht, in der Gegend, wo die historische Figur tatsächlich gelebt hat. Die Laienschauspieler wurden aus der Einwohnerschaft rekrutiert.

Aber nach Sichtung der Muster lehnen die Verantwortlichen des CCM das Projekt ab. Sie begründen das in erster Linie damit, dass die Menschen aus dem Volk nicht den idealen Marokkaner repräsentieren. Bouanani setzt alles dran, um zu verhandeln, zu tricksen, schneidet den Film immer wieder neu. Aber das CCM will von diesem Film nichts mehr wissen. Er wird endgültig fallengelassen, und die nicht entwickelten Filmrollen bleiben in einem französischen Labor liegen.

Bouanani, der das Verschwinden seines Films nie richtig verwinden konnte, hat erst viel später begriffen, was die Zensoren wirklich gestört hat. Als Erster hatte er versucht, einen Helden der nationalen Geschichte zu porträtieren, der in den offiziellen Annalen nicht auftaucht. Es wäre der erste marokkanische Film gewesen, der die Kultur der Amazigh (Berber) ins Licht der Öffentlichkeit gerückt hätte. Eine solche Figur zu rühmen, lief konträr zur offiziellen Geschichtsschreibung. Im kollektiven Gedächtnis erinnern nur noch die berühmten Gaukler auf dem zentralen Marktplatz Djemaa el Fna in Marrakesch an ihn.

Bouanani erhält daraufhin wieder für ein paar Jahre Drehverbot. Er kehrt erst 1977 ans CCM zurück, als ein neuer Direktor kommt, der sein Können und seine Stellung endlich anerkennt. Das beginnt mit der Erhöhung seines Gehaltes, das seit seiner Einstellung im Jahr 1963 eingefroren war. Von dieser positiven Entwicklung ermutigt, macht sich Bouanani nun an einen neuen Film, der auf einer poetischen Fabel basiert. Aber das CCM besitzt immer noch keinen Fonds für Spielfilme. Dank einer kleinen Gruppe freiwilliger Helfer, dank der Zauberkünste Naïmas und der Materialreste ausländischer Produktionen, die ihm sein Freund, der Regisseur Mohamed Osfour , zur Verfügung stellt, dreht er 1977 LES QUATRE SOURCES. Ein Kurzfilm von 35 Minuten, und ein erstes und letztes Mal für Bouanani: ein Film in Farbe.

Bevor ich ihn ihm im Jahre 2010 zeigte, hatte Bouanani ihn nicht wieder gesehen. Seine Gesichtszüge verrieten Aufruhr vom ersten Bild an: „Ich hatte ganz vergessen, dass der Film missraten war!“ Wie viele Künstler, die etwas auf sich geben, war Bouanani selten zufrieden mit seiner Arbeit. Bei diesem Film fehlten ihm die finanziellen Mittel, um die Gagen der ursprünglich vorgesehen Schauspieler zu bezahlen. Doch trotz aller Mängel beweist dieser poetische Film die Originalität eines zur Reife gelangten Stils. Die Art, wie er sein Thema behandelt, ist viel moderner als bei den meisten marokkanischen Kurzfilmen der heutigen Zeit. Wieder einmal geht es um ein Initiationsritual, das poetische Universum ähnelt dem von Pier Paolo Pasolinis „Il fiore delle mille e una notteErotischen Geschichten aus 1001 Nacht“ von Pier Paolo Pasolini genauso wie dem von Sergei Paradschanows „Feuerpferde“ – Filme, die Bouanani zuvor nicht gesehen hatte.

Erst 1979 erhält Bouanani die Möglichkeit, seinen einzigen Langfilm zu drehen. Das Budget ist lächerlich klein, aber für Bouanani kommt es nicht in Frage, diese unverhoffte Chance verstreichen zu lassen. Es ist der Anfang vom Ende eines Projekts, das er seit zehn Jahren immer wieder überarbeitet hat. Nach einigen ersten Bildern in Farbe, die sich als enttäuschend erweisen, wird THE MIRAGE in Schwarzweiß gedreht, entgegen der vorherrschenden Tendenz. Obwohl die Kritiker den Film einstimmig loben und obwohl er Festivalpreise erhält, lehnen ihn die Verleiher ab, weil Schwarzweiß als überholt und schlecht verkäuflich gilt.

Aber Bouanani glaubt weiter an sein Glück. Er zieht „La barrière“ wieder hervor, ein Science-Fiction-Projekt, das ebenfalls in seiner Schublade schlummerte. Der Direktor des CCM ist bereit, ihn zu unterstützen, unter der Bedingung, dass er die weibliche Hauptrolle einem nationalen Gesangstar gibt, der gerade in seiner Gunst stand. Entweder so oder gar nicht! Verzweifelt entscheidet Bouanani, sich aus der Welt des Kinos zu verabschieden.

Seine ganze Hoffnung hat er in die Zusammenarbeit mit einer neuen Generation von Regisseuren in den 1990er Jahren gesetzt. Allen voran Daoud Aoulad Syad, für dessen erste Filme Bouanani die Drehbücher schrieb und den Schnitt übernahm.

Aber wie viele Drehbücher, Essays und Projekte hat Bouanani in Kisten verbannt? Neben denen, die sich in Rauch aufgelöst haben, bei den vielen Bränden in seiner Wohnung? Seine Tochter Touda, die sich um die Archivierung seines Nachlasses kümmert, entdeckt immer wieder neues Material. Der Film, den ich mit ihrer Hilfe vorbereite, soll Bouananis Produktion in seiner Gesamtheit Rechnung tragen. Bis dahin wird meine Suche zumindest dazu beitragen, dieses erstaunliche Werk wieder zum Leben zu erwecken, das in den Kellern überdauert hat. Die Filme, zu denen Bouanani und seine Familie keinen Zugang hatten, laufen heute wieder auf Festivals und in den nationalen Filminstituten. Filmliebhaber in aller Welt haben nun die Gelegenheit, sie neu zu entdecken.

„Glücklich ist der, dessen Gedächtnis in Frieden ruht“, lautet der erste Vers in MÉMOIRE 14.
 

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